Auf der Suche nach dem Geist
Carl von Linné, der große schwedische Naturforscher und Zeitgenosse La Mettries, war der Erste, der den Menschen aus taxonomischer Sicht klassifizierte und ihn der Ordnung der Primaten zuwies. Entgegen seiner sonstigen Angewohnheit lieferte Linné für seine eigene Spezies keine weitere zoologische Beschreibung, sondern beschränkte sich auf den Satz: „Erkenne dich selbst“.
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnern, Denken und intelligente Problemlösung finden sich auch bei zahlreichen anderen Tierarten. Insbesondere Termiten, Bienen, Rabenvögel, Wale, Wölfe und Schimpansen tun sich hier hervor. Schimpansen, Orang-Utans und Rabenvögel können sich zudem im Spiegel selbst erkennen und zeigen damit zumindest Ansätze von Bewusstsein. Bereits Charles Darwin war überzeugt, dass die Unterschiede zwischen Tier und Mensch beim Denken, nur gradueller Natur sind. Tatsächlich hat der Mensch bei näherer Betrachtung kaum ein echtes Alleinstellungsmerkmal: Der Gebrauch von Werkzeugen, planvolles Handeln, die Vermittlung von Traditionen, eine differenzierte Kommunikation durch Gebärden und Laute, Trauer um verstorbene Gruppenmitglieder, das Erfassen von Mengen oder Arbeitsteilung sind Befähigungen, die sich auch im Tierreich finden.
Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass der Mensch all diese Fähigkeiten deutlich besser beherrscht als alle anderen Tiere. Die Ursache hierfür ist sein stark entwickeltes Bewusstsein, jene von Linné beschriebene Fähigkeit zu Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Sie hat es dem Menschen ermöglicht, in wenigen 100.000 Jahren eine Entwicklung zu durchlaufen, die ihn vom Aasfresser zum Astronauten werden ließ.
Schuf ein tektonisches Ereignis unser Bewusstsein?
Der menschliche Geist ist nicht vom Himmel gefallen. Er hat seinen Ursprung wahrscheinlich in dem ostafrikanischen Grabenbruch, der vor einigen Millionen Jahren die dortige Affenpopulation spaltete. Vielleicht wäre Bewusstsein ohne dieses tektonische Ereignis bis heute nicht entstanden. Wie sich die Entwicklung genau vollzog, liegt im Dunkel der Naturgeschichte. Ein nackter Affe aus Afrika hat vom Baum der Erkenntnis gegessen und sich dadurch aus einem Leben im ewigen Hier und Jetzt befreit – oder, wenn man so will, sich dazu verdammt, nicht mehr im ewigen Hier und Jetzt leben zu dürfen. Zu der unintelligenten, zufälligen und nur im Rhythmus von Generationen voranschreitenden biologischen Evolution gesellte sich damit eine kulturelle Evolution. Sie ermöglichte es, Mengen an nützlicher Information zu erzeugen, die die der DNS-Mutationen um einen vielhundert millionenfachen Faktor übersteigen. Bewusstes Denken erlaubt es uns, zu abstrahieren, flexibel auf verschiedene Situationen zu reagieren, Chancen zu ergreifen, widersprüchliche Informationen aufzulösen, Vergangenes und Zukünftiges in unsere Überlegungen mit einzubeziehen, Ausgänge von Entscheidungen zu simulieren, Dinge zu priorisieren, Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, Begriffe zu erfinden, neue Ideen in die Welt zu setzen, Erkenntnisse mittels Sprache und Schrift mit anderen zu teilen, Überzeugungen zu entwickeln und Ziele trotz Hindernissen zu erreichen. Zudem können wir Realitäten jenseits der für uns fassbaren Wirklichkeit in unser Handeln einbeziehen: Wir können Wahrscheinlichkeiten oder die Eigenschaften vierdimensionaler Räume berechnen und damit die Naturgesetze in unseren Dienst zwingen; genauso können wir Religionen, Mythen, Kunst, Literatur und Musik erschaffen, Ausdrucksformen menschlicher Kultur, die – zumindest auf den ersten Blick – keinen erkennbaren Nutzen haben.
Ein soziales Gehirn
Der menschliche Geist ist dem anderer Tiere insbesondere deshalb überlegen, weil er sich nicht nur der eigenen Existenz, sondern auch der Existenz anderer bewusst ist. Homo sapiens verfügt über ein außerordentlich soziales Gehirn. Es befähigt ihn, seine kognitive Begabung nicht nur in Konkurrenzsituationen zu nutzen, sondern auch, um mit anderen Artgenossen zu kooperieren. Das geht so weit, dass manchmal tausende oder gar Millionen Menschen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Das menschliche Gehirn ist fähig, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, deren verdeckte Motive, Gefühle, Absichten und Erwartungen zu erkennen und zu verstehen, wie ihr Handeln auf uns zurückwirkt. Mit diesem Verständnis lässt sich eine gemeinsame Jagd organisieren, Solidarität üben oder eine Intrige schmieden. Menschen mit sozialen Gehirnen pflegen ihre Kranken, bestatten ihre Toten, führen Kriege oder kontrollieren ihre Gruppenkonflikte mit Kulturtechniken wie Tanz und Musik.
Wir wissen nicht, wie Bewusstsein entsteht
So, wie ein Verbund toter Atome gemeinsam „leben“ kann, können unbewusste Neuronen gemeinsam etwas „erleben“. Doch wie entsteht diese einzigartige Fähigkeit? Grundlage des Bewusstseins sind, wie erwähnt, Nervenzellen in den evolutionär jüngsten Schichten des Gehirns, die mit anderen Neuronen der Großhirnrinde verknüpft sind. Während tiefere Ebenen des Gehirns darüber Protokoll führen, was draußen in der Welt geschieht, beschäftigt sich die oberste Ebene des Kortex mit den Vorgängen im Gehirn selbst. Descartes hatte vermutet, dass das Bewusstsein an einem bestimmten Ort wohnt, an dem alle Fäden zusammenlaufen, eine Schaltstelle, von der aus es mit dem Körper kommuniziert. Diese Vorstellung hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. Heute wissen wir, dass sie falsch ist. Die Prozesse, die unseren Geist erzeugen, sind in einem außerordentlich arbeitsteiligen und dezentralen System organisiert. Ein System, das durch plastische Lernprozesse seine funktionelle Architektur laufend ändert und dabei trotzdem stabil bleibt. Seine Selbstreglungsmechanismen erhalten und koordinieren es, ohne dass eine zentrale Steuerungsinstanz nötig wäre. Vermutlich beruhen bewusste Wahrnehmungen und Gedanken auf einer kurzzeitigen Synchronisation verschiedener, weit über die Großhirnrinde verteilter Areale.
Die zerstreute Natur dieser Repräsentationen macht die Erforschung des Bewusstseins außerordentlich schwierig. Bewusstsein scheint ein „metastabiler Zustand eines massiv distributiv organisierten Systems mit nicht-stationärer, nicht-linearer Dynamik“ zu sein, der sich bis heute jeder Beschreibbarkeit entzieht.[iv] Wir haben, kurz gesagt, nicht die geringste Vorstellung davon, wie aus Aktivitäten des Gehirns bewusstes Erleben entsteht. Sollte es eines Tages ein Modell geben, das diese Zustände und Prozesse zu beschreiben vermag, wäre dieses Modell außerordentlich komplex. Bis dahin gilt, dass menschliches Bewusstsein nicht messbar ist; wir gehen zwar davon aus, dass es eine materielle Grundlage hat, können es aber mit physikalisch-mathematischen Mitteln nicht beschreiben.[v] Wahrscheinlich kann es ein solches Modell auch gar nicht geben: Wir können über das Gehirn nur das in Erfahrung bringen, was uns das Gehirn zu wissen erlaubt. Mit ihm lässt sich zwar auf niedrigere Bewusstseinsebenen herabschauen, doch wir verfügen über keine höhere Instanz, von der aus sich unser eigener Entwicklungsstand vollständig betrachten ließe.[vi] Sowenig, wie die Mathematik mit ihren Mitteln ihre eigene Widerspruchsfreiheit zu beweisen vermag, vermag auch das Gehirn nicht, sich in seiner Gesamtheit selbst zu analysieren.
Sigmund Freuds Instanzenmodell
Wir wissen, dass es uns gibt und dass wir in eine Umwelt eingebettet sind. Doch es fällt uns schwer, die Instanz zu benennen, die all dies spürt. Das menschliche Gehirn erschafft eine Empfindung, die wir als „Ich“ wahrnehmen, etwas, dem wir so unterschiedliche Dinge wie unseren Körper, unsere Gedanken, unsere verschiedenen Identitäten oder unseren Selbstwert zuordnen. Die Frage nach dem Wesen der empfindenden und handelnden Instanz markiert den Übergang von der Neurobiologie zur Psychologie. Ein Meilenstein auf ihrem Weg zur einer eigenständigen Wissenschaft war um 1900 die Entdeckung des Unbewussten durch den Wiener Neurologen und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856-1939).[vii]
In Freuds grundlegendem 1923 veröffentlichten „Strukturmodell der Psyche“ formen drei Instanzen, das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“ die menschliche Seele. Das „Es“ sind die vollkommen unbewussten triebhaften Bedürfnisse, wie der Nahrungs- und der Sexualtrieb. Das mehrheitlich unbewusste „Über-Ich“ sind jene, vor allem durch Erziehung vermittelte Instanzen, die unsere Überzeugungen, Moralvorstellungen, sozialen Normen und unser Gewissen in Form von Geboten und Verboten repräsentieren. Das „Ich“ schließlich ist unser „Selbstbewusstsein“, jener Teil von uns, der versucht, die Konflikte zwischen „Es“ und „Über-Ich“ aufzulösen, indem es den kritischen Verstand Selbstkontrolle üben lässt. Doch auch das „Ich“ verfügt noch über wesentliche unbewusste Anteile.
Freud lenkte damit erstmals unsere Aufmerksamkeit auf unser Innenleben und stellte unsere vermeintliche Entscheidungsfreiheit infrage. Sein Seelenmodell zeigt, dass sich unsere Persönlichkeit aus verschiedenen bewussten und unbewussten Instanzen zusammensetzt. Er hat damit, wie er es selbst einmal formulierte, dem „Ich“ nachgewiesen, „dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht“.[viii] Die Erkenntnis, dass wir wohl stärker durch Triebe und erlernte Normen als durch unseren freien Willen gesteuert werden, war nach Kopernikus und Darwin der dritte große Akt der Vertreibung des Menschen aus der Mitte des Universums.
Wer mehr wissen will:
Freud, Sigmund (1916/17): „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ Projekt Gutenberg-DE.
Ditfurth, Hoimar von (1976): „Der Geist fiel nicht vom Himmel“, Hoffmann und Campe.
Roth, Gerhard, Strüber, Nicole (2018) „Wie das Gehirn die Seele macht“, Klett-Cotta
Singer, Wolf (2004): „Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung“, Vortrag, Heidelberg.
Pinker, Steven (2012): “Wie das Denken im Kopf entsteht”, Fischer.
Tomasello, Michael (2014): „Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens“, Suhrkamp.
Kandel, Eric (2014): „Das Zeitalter der Erkenntnis“, Pantheon.
Hawking, Stephen (2016): „Das Universum in der Nussschale“, dtv
Hofstadter, Douglas (2018) „Gödel, Escher, Bach“, Klett-Cotta.
Bildnachweise
Anmerkungen:
[i] Vgl. Hawking (2016) S. 213.
[ii] Vgl. Hofstadter (2016) S.29.
[iii] Zu diesem letzten Aspekt siehe Tomasello (2014) S.186.
[iv] Singer (2004).
[v] Vgl. Pinker (2012) S. 82 ff.
[vi] Vgl. Ditfurth (1976) S.18.
[vii] Vgl. Kandel (2014) S. 73 ff.
[viii] Freud (1916/17) 18. Vorlesung.
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