Materie oder Geist?
Julien Offray de La Mettrie war ein Provokateur. Seine philosophischen Pamphlete hatten dermaßen viel Unmut erregt, dass sich der gelernte Militärarzt gezwungen sah, seine Heimat Frankreich zu verlassen. Doch auch seinen Asylgebern, den liberalen Niederländern, wurde seine Religionskritik bald zu viel. An seinem letzten Zufluchtsort, dem Hof Friedrichs des Großen, gelang es La Mettrie schließlich auch noch, sich mit Voltaire und dem König von Preußen selbst zu überwerfen – immerhin zwei der bekanntesten Freigeister ihrer Zeit. La Mettrie starb 1751 im Alter von nur 42 Jahren in Potsdam, wahrscheinlich infolge einer Lebensmittelvergiftung.
In seinem bekanntesten Werk „L’homme machine“, der Maschinenmensch, 1747 in den Niederlanden erschienen, beschreibt La Mettrie Mensch und Tier als mechanische Apparate, „die ihre Triebfedern selbst aufziehen.“ Auch die menschliche Seele funktioniert nach biomechanischen Gesetzen. Geist ist Materie. Es gibt keine unsterbliche Seele, keinen Gott und keinen freien Willen.
Das Leib-Seele-Problem“, die Frage, in welchem Verhältnis Körper und Geist zueinander stehen, beschäftigt die Menschen seit der Antike. In dieser philosophischen Debatte hatte La Mettrie den bis dahin radikalsten materialistischen und mechanistischen Standpunkt bezogen. Eine nicht minder radikale Gegenposition vertraten die Idealisten: Der irische Theologe George Berkeley (die berühmte Universität in Kalifornien ist nach ihm benannt) war überzeugt, dass wir über die Welt nichts mit Gewissheit in Erfahrung bringen können. Alle Wahrnehmung ist subjektiv und unsere Realität allein das Ergebnis mentaler Vorstellungen, die eine physische Welt nicht zwingend voraussetzen. Mit anderen Worten: Alles ist Geist!
Der Dualismus von Körper und Geist
Einige Jahrzehnte bevor La Mettrie und Berkeley ihre jeweiligen radikalen Positionen formulierten, hatte René Descartes – eine Schlüsselfigur der Entstehung der modernen Philosophie und Wissenschaften – mit dem „Dualismus“ die seit der Antike gängige Mehrheitsmeinung neu formuliert: Körper und Geist sind von unterschiedlicher Substanz und existieren unabhängig voneinander. Der Körper besteht aus Materie, ist daher den Naturgesetzen unterworfen und sterblich. Die Seele des Menschen hingegen ist immateriell; sie kann jenseits der Naturgesetze existieren und weiterleben, wenn der ihr zugeordnete Körper nicht mehr ist.
Das Leib-Seele-Problem ist eines der großen Themen der Philosophie. Es ist Ausdruck des subjektiven Empfindens der meisten Menschen, einen vom Körper unabhängigen Geist zu haben und stellt die grundlegende Frage nach der Existenz einer von den materiellen Dingen losgelösten Welt. Die Neurobiologie beschäftigt sich seit einigen Jahrzehnten mit diesem Phänomen auf rein naturwissenschaftlicher Basis, unterstützt vor allem durch die Möglichkeiten bildgebender Verfahren: Welche physiologischen Vorgänge bringen jene Zustände und Prozesse hervor, die wir mit Begriffen wie Denken, Bewusstsein, Geist, Psyche oder Verstand verbinden? Nach allem, was wir heute wissen können, scheint es so zu sein, dass diese Phänomene und Zustände ausschließlich durch neuronale Aktivitäten erzeugt werden, elektrochemische Gewitter zwischen vernetzten Nervenzellen. In diesem Sinne besteht Bewusstsein aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor, Schwefel, Calcium, Kalium und Natrium. Das, was uns Menschen besonders macht, hat ganz offenbar, wie schon von La Mettrie behauptet, eine rein materielle Grundlage. Die mögliche Existenz einer unsterblichen Seele ist damit allerdings nicht widerlegt. Falls es sie gäbe, müsste sie aber Eigenschaften aufweisen, die sich einer naturwissenschaftlichen Betrachtung entziehen.
Auf der Suche nach dem Bewusstsein
Aber auch mit der naturwissenschaftlichen Betrachtung ist es alles andere als einfach. Descartes hatte vermutet, dass das Bewusstsein an einem bestimmten Ort wohnt, an dem gleichsam alle Fäden zusammenlaufen, eine Schaltstelle, von der aus es mit dem Körper kommuniziert. Diese Vorstellung hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. Heute wissen wir, dass sie falsch ist. Die Prozesse, die unseren Geist erzeugen, sind in einem außerordentlich arbeitsteiligen und dezentralen System organisiert. Ein System, das durch plastische Lernprozesse seine funktionelle Architektur laufend ändert und dabei trotzdem stabil bleibt. Seine Selbstreglungsmechanismen erhalten und koordinieren es, ohne dass eine zentrale Steuerungsinstanz nötig wäre. Vermutlich beruhen bewusste Wahrnehmungen und Gedanken auf einer kurzzeitigen Synchronisation verschiedener, weit über die Großhirnrinde verteilter Areale. Die zerstreute Natur dieser Repräsentationen macht die Erforschung des Bewusstseins außerordentlich schwierig. Dem Hirnforscher Wolf Singer zufolge scheint Bewusstsein ein „metastabiler Zustand eines massiv distributiv organisierten Systems mit nicht-stationärer, nicht-linearer Dynamik“ zu sein, der sich bis heute jeder Beschreibbarkeit entzieht.
Wir haben, kurz gesagt, nicht die geringste Vorstellung davon, wie aus Aktivitäten des Gehirns bewusstes Erleben entsteht. Sollte es eines Tages ein Modell geben, das diese Zustände und Prozesse zu beschreiben vermag, wäre dieses Modell außerordentlich komplex. Bis dahin gilt, dass menschliches Bewusstsein nicht messbar ist; wir gehen zwar davon aus, dass es eine materielle Grundlage hat, können es tatsächlich aber mit physikalisch-mathematischen Mitteln nicht beschreiben.
Wer mehr wissen möchte:
La Mettrie, Offray Julien de (1985): „Der Mensch als Maschine”, LSR.
Roth, Gerhard, Strüber, Nicole (2018): „Wie das Gehirn die Seele macht“, Klett-Cotta.
Pinker, Steven (2012): “Wie das Denken im Kopf entsteht”, Fischer.
Singer, Wolf (2004): „Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung“, Vortrag, Heidelberg.
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