Neue Makromoleküle
Das Leben entsteht sehr früh. Seine Anfänge liegen 3,8 Milliarden Jahren zurück, nur wenige hundert Millionen Jahre nach Entstehung der Erde. Niemand weiß, wie sich der Übergang von toten organischen Molekülen zum Lebendigen vollzieht. Doch was immer auch geschah, es waren keine anderen Kräfte im Spiel als jene, die den Kosmos bisher geformt haben.
Eine Handvoll Elemente, Sternenstaub längst verglühter Sonnen, beginnt miteinander zu kooperieren und jenseits der Chemie einen neuen Weg zu beschreiten. Vielleicht in einem flachen Tümpel am Meeresufer, vielleicht in der Umgebung heißer Quellen am Grund des Ozeans, schaffen die Kräfte des Elektromagnetismus erstmals eine Kette sich selbst katalysierender Ribonukleinsäuren, eingehüllt in eine Mikrosphäre aus Proteinen. Eine Insel niedrigerer Entropie ist entstanden. Die erste RNS ist wahrscheinlich Henne und Ei zugleich: Ihre Basensequenzen können sowohl neue Moleküle herstellen als auch Informationen speichern. Mit der Zeit aber etabliert sich eine Arbeitsteilung: Nukleinsäuren stellen Aminosäuren her, die ihrerseits den Aufbau neuer Nukleinsäuren katalysieren.
Die Entstehung des Lebens erfolgt nicht spontan; kein Sprung, sondern ein Prozess kleiner Schritte und fließender Übergänge. In dem Moment aber, in dem es der RNS zum ersten Mal gelingt, mit Hilfe der von ihr erzeugten Katalysatoren Kopien ihrer selbst herzustellen, hält die Natur den Schlüssel in der Hand, ihr bisher komplexestes Werk unsterblich zu machen: Nicht die vergängliche Struktur soll erhalten werden, sondern ihr Bauplan, festgehalten durch einen Code aus vier Zeichen. In das System ist ein Zufallsgenerator eingebaut, eine Instabilitätsmaschine, die neue Informationsvarianten erzeugt.
Der lange Weg zur ersten Zelle
Viele Millionen Jahre lang begutachtet der neue Mechanismus die zahlreichen Aminosäuren. Immer, wenn ein zufällig entstandenes Protein Stabilität und Überlebenschancen des selbstreplizierenden Systems erhöht, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass es in den Informationsspeicher eingebaut wird. An Ende werden 22 Säuren den Selektionsprozess überstehen: Sie sind die Erfolgsrezepte für lebensfreundliche Proteine. Irgendwann ersetzt dann der Selektionsmechanismus die Proteinhülle durch eine flexible Lipidmembran. Die RNS gibt ihre Rolle als Hüterin des Bauplans an ein ähnliches Molekül ab, das sich aber aufgrund seiner größeren Beständigkeit besser zur Aufbewahrung von Information eignet: die DNS. Die RNS konzentriert sich fortan darauf, zwischen Idee und Form zu vermitteln, indem sie den für die Proteinherstellung notwendigen Informationstransport übernimmt. Aus einer lipidummantelten autokatalytischen Gemeinschaft von DNS, RNS und Proteinen, entsteht vor etwa drei Milliarden Jahren die erste Zelle, der Urahn aller lebenden Wesen auf unserem Planeten. 800 Millionen Jahre hat die Natur an diesem Prototyp gefeilt. Er ist der Ursprung des universellen genetischen Codes, den alle Lebensformen bis heute miteinander teilen. Mit der ersten Zelle vollzieht sich der Übergang von der chemischen zur biologischen Evolution.
Schon bald werden sich die Einzeller in die beiden Domänen der robusten Archaeen und der empfindlicheren Bakterien teilen. 200 Millionen Jahre lang vermehren sich beide Formen und optimieren dabei stetig ihre chemischen Abläufe. Die Energie, die sie zur Abwehr der Entropie benötigen, beziehen die Einzeller aus dem Abbau von Einfachzuckern. Diese Strategie führt das Leben vor etwa 2,8 Milliarden Jahren in seine erste große Krise: Die Kohlenhydratvorräte der Urmeere sind leergefressen. Zahllose Einzeller verhungern. Von nun an wird der Kampf um knappe Ressourcen das Leben ständig begleiten.
Eine Katastrophe jagt die nächste
Wer unter den veränderten Bedingungen überlebt, entscheidet der in die Replikationsmaschine eingebaute Zufallsgenerator. Und so weist ein Zufall den Weg aus der Energiekrise: Bestimmte Bakterien stellen unvermutet Pigmente her, mit deren Hilfe sich die Energie des Sonnenlichts in chemischen Bindungen speichern lässt. Die Einzeller können damit ihre Kohlenhydrate selbst herstellen – das Leben hat sich eine schier unerschöpfliche Energiequelle erschlossen. Doch die Erfindung der Photosynthese trägt bereits den Keim der nächsten Krise in sich. Der Zuckeraufbau setzt Unmengen an Sauerstoff frei. Das Gas entweicht aus dem Meer und lässt den dünnen, festen Metallpanzer der Erdkruste zu Gestein verwittern. Zahlreiche Oxide werden ins Meer gespült und reichern es mit Salzen und Mineralien an. Nach etwa einer Milliarden Jahre ist der Korrosionsprozess abgeschlossen und der Sauerstoff beginnt sich in der Atmosphäre anzureichern. In über 20 Kilometern Höhe bildet er mit Hilfe ultravioletter Strahlen einen Ozonschild, der von nun an die lebensfeindlichen Spektralbereiche der Sonnenstrahlen von der Erdoberfläche fernhält. Die empfindlichen Einzeller in den Ozeanen aber sind auf das aggressive Gas, das sie selbst vom Kohlenstoff befreit haben, nicht vorbereitet. Die Folge ist das wahrscheinlich größte Massensterben der Geschichte – fast alle bisher entstandenen einfachen Arten verschwinden wieder von der Bühne der Evolution. Erst in letzter Minute eröffnet der blinde Uhrmacher einen Ausweg: Mutationen haben Enzyme entstehen lassen, die die Zellgifte neutralisieren. Einige wenige Spezies können so der „Großen Sauerstoffkatastrophe“ entkommen.
Der Sauerstoff ist auch Ursache der nächsten Katastrophe. In der Atmosphäre verwandelt er große Mengen des starken Treibhausgases Methan in weniger wirksames Kohlendioxid und schwächt damit den Treibhauseffekt stark ab. Die Folge ist eine drastische Abkühlung, die „Huronische Eiszeit“, die für mehrere hundert Millionen Jahre große Teile der Erdoberfläche unter einem dicken Eispanzer verschwinden lässt. Allein die Dichteanomalie des Wassers verhindert, dass das Meer nicht bis auf den Grund zufriert und einige Arten überleben können, bis vor zwei Milliarden Jahren wahrscheinlich vermehrte vulkanische Aktivitäten die klirrende Frostperiode wieder beenden.
Die Entwicklung der Sauerstoffatmung
Die davongekommenen heterotrophen Bakterien – sie können keine Photosynthese betreiben – finden in den folgenden Jahrmillionen einen Weg, den Elektronenhunger des Sauerstoffs für sich zu nutzen. Im Vergleich zu den bisherigen Gärprozessen lässt sich mit der Sauerstoffatmung ein Vielfaches an Energie aus den Kohlenhydraten ziehen. Nach über einer Milliarde Jahre unentwegten Experimentierens verfügt das Leben nun endlich über ein effizientes Energieversorgungssystem.
Sklavenhalter
Vor 1,8 Milliarden Jahren erscheint ein neuer Typ von Einzellern auf der Evolutionsbühne. Das Besondere an ihm ist seine Fähigkeit, andere Zellen versklaven zu können. Bestimmte, über die Membran aufgenommene Bakterien werden nicht mehr verdaut, sondern können ihren Stoffwechsel im Inneren ihres Prädators unbehelligt weiterbetreiben. Aus den so vereinnahmten Einzellern entwickeln sich Mitochondrien und Plastide, die über eine eigene Membran und DNS verfügen. Das zwingt die Wirtszelle dazu, ihr eigenes Erbgut durch eine Zellkernmembran vor Vermischung mit der Fremd-DNS schützen zu müssen. Schon bald mutiert die Beziehung zu einer Symbiose, bei der kein Teil mehr ohne den anderen überleben kann. Die ersten Eukaryoten sind entstanden. Der neue Zelltyp verfügt über autonome Reaktionsräume, in denen sich fortan Stoffwechsel- und Replikationsprozesse unabhängig voneinander organisieren lassen.
Ein neuer, revolutionärer Zelltyp
Mit effizienter Energiegewinnung und arbeitsteiligen Organellen ausgestattet, sind die Eukaryoten zu Höherem berufen. Der Evolutionsmotor nimmt an Fahrt auf. Vor etwa 1,5 Milliarden Jahren trennen sich zum ersten Mal Tochterzellen nach der Teilung nicht mehr vollständig voneinander, sondern bleiben in kugeligen Verbänden zusammen: Die Vorläufer unserer heutigen Algen haben die ersten Zellkolonien gebildet. Erstmals in über zwei Milliarden Jahren Entwicklung ist das Leben groß genug, dass es mit bloßem Auge sichtbar wäre – hätte es damals schon Augen gegeben. Größe sollte sich fortan als Selektionsvorteil erweisen; ein effektiver Schutz vor Fressfeinden und widrigen Umwelteinflüssen.
Schlüsselereignis | Bedeutung | Vor … Jahren |
Urknall | Entstehung von Zeit, Raum und Materie | 13,8 Mrd. |
Erste Atome | Stabile Systeme aus Elementarteilchen und Grundkräften | 13,7996 Mrd. |
Sterne | Licht, Elemente schwerer als Helium, Galaxien | 13,6 Mrd. |
Unser Sonnensystem | Entstehung von Planeten und Monden | 4,6 Mrd. |
Chemische Evolution | Komplexe organische Moleküle auf der Erde | 4,0 Mrd. |
Leben | Beginn der biologischen Evolution | 3,8 Mrd. |
Photosynthese | Speicherung von Sonnenlicht; Lösung der ersten Energiekrise | 2,8 Mrd. |
Sauerstoffatmung | Effiziente Energiegewinnung durch vollständigen Zuckerabbau | 2,0 Mrd. |
Eukaryoten | Zellen mit getrennten Reaktionsräumen | 1,8 Mrd. |
Vielzeller | Arbeitsteilige Zellkolonien, Tod als Zwangsläufigkeit | 1,5 Mrd. |
Sex | Erhöhung der Variabilität, sexuelle Auslese | 1,2 Mrd. |
Nervennetze | Koordination komplexer Organismen | 650 Mio. |
Wirbeltiere | Innenskelett als überlegenes Bauprinzip | 530 Mio. |
Landgang des Lebens | Umgang des Lebens mit Gravitation und Trockenheit | 480 Mio. |
Warmblütigkeit | Umweltunabhängige Reaktionsbedingungen | 200 Mio. |
Gattung Mensch | Säugetiere mit Bewusstsein, Sprache und Kultur | 2,3 Mio. |
Schlüsselereignisse der Naturgeschichte
Arbeitsteilung
Doch die neue Komplexität schafft auch neue Probleme. Um überleben zu können, sind die Zellkolonien gezwungen, ihre Aktivitäten zu koordinieren. Dazu müssen Informationen beschafft, verarbeitet und weitergegeben werden. Die Lösung des Problems sind Stoffe, die in Abhängigkeit von Umweltereignissen chemische Signale in den Zellwänden erzeugen. Aus Adhäsionsmolekülen, ursprünglich mit der Aufgabe betraut, den Zusammenhalt der Kolonie sicherzustellen, entstehen Integrine, Signalübertragungsproteine, die sich zu Hormonen und Neurotransmittern weiterentwickeln. Einige hundert Millionen Jahre später hat die Komplexität der Zellverbände soweit zugenommen, dass diese einfache Signaltechnik an ihre Grenzen stößt. Das Leben entdeckt, dass elektrische Ströme Informationen wesentlich rascher übertragen können. Die Grundlagen zur Entstehung von Nervensystemen sind gelegt.
Der Tod als Zwangsläufigkeit
Längst sind die Zellkolonien zu Schicksalsgemeinschaften geworden. Das Prinzip der Arbeitsteilung, das innerhalb der Zelle bereits etabliert ist, wird nun auch zwischen den Zellen organisiert. Die DNS lernt, mit Hilfe des Gencodes, die Aktivitäten bestimmter Zellgruppen gezielt anzusprechen. Aus autotrophen und heterotrophen Mehrzellern gehen die ersten algen- und schwammartigen Pflanzen und Tiere hervor. Unzählige Einzeller sind bis zu diesem Zeitpunkt verhungert, zerplatzt, erstickt, wurden gefressen oder zerquetscht. Doch erst jetzt, mit den spezialisierten Zellverbänden, wird der Tod auch eine biologische Zwangsläufigkeit. Der Ausfall eines lebenswichtigen Gewebeverbands zieht unweigerlich das Absterben des gesamten Organismus nach sich. Von diesem „natürlichen“ Tod profitieren wiederum die Einzeller. Sie übernehmen die Aufgabe, das Werk der Entropie zu vollenden und als Destruenten alle Informationen, die die komplexen Lebensformen angehäuft haben, wieder auszulöschen.
Die Erfindung des Sex
Vor etwa 1,2 Milliarden Jahren haben zwei Lebewesen zum ersten Mal miteinander Sex. Ein Schlüsselereignis der biologischen Evolution, denn die Rekombination der Erbanlagen zweier Elternteile wird sich rasch als wichtiger Vorteil im Überlebenskampf und mächtige Triebfeder bei der Entstehung neuer Arten etablieren. Mit der Keimzelle ist ein neuer Zelltyp entstanden. Sie kann den sterblichen Organismus verlassen, um durch die Vereinigung mit einer anderen Keimzelle irgendwo eine neue Zellkolonie zu gründen. Die Vorteile der neuen Fortpflanzungsstrategie haben allerdings ihren Preis: Fortan wird ein weiterer Selektionsfaktor, die sexuelle Auslese, die Beziehungen innerhalb der Arten massiv verkomplizieren.
Konstruktionsprinzipien
In den folgenden Jahrmillionen entstehen und vergehen unzählige maritime Lebensformen; nur wenige Spezies bewähren sich auf Dauer. Mit der Zeit setzen sich bei den Tieren zwei grundlegende, symmetrische Bauprinzipien durch, die eine zielgerichtete Bewegung erleichtern: Ein einachsiges Prinzip, das ausgehend von wurmartigen Gebilden vor 550 Millionen Jahren die ersten Weichtiere hervorbringt, und ein mehrachsiges Prinzip, die Ahnen der heutigen Seesterne und Seeigel.
Die Erde vor 540 Millionen Jahren
Vor 540 Millionen Jahren ist die Erde ein Planet, der durch den Sauerstoff in vielerlei Hinsicht verändert wurde: Eine dichte Ozonschicht filtert die aggressiven Spektralbereiche des Sonnenlichts. In den unteren Schichten der Atmosphäre ist der Sauerstoffgehalt nach mehr als zwei Milliarden Jahren photosynthetischer Aktivität auf fast 20% angestiegen. Die Lichtstrahlen brechen sich an den Sauerstoffmolekülen, der Streuungseffekt lässt Himmel und Meer blau erstrahlen, während die dünne, von den Konvektionsströmen des Erdmantels pausenlos in Bewegung gehaltene Erdoberfläche rotbraun oxidiert ist. Im Meer hat der Sauerstoff die Entwicklung bizarrer matratzenartiger Wesen, plumper Mollusken, filigraner Seesterne und wimmelnder Würmer begünstigt, die – allesamt nackt und blind – gemächlich im Meeresschlamm nach Kleinstlebewesen wühlen. Ein einfache, fast gemütliche Nahrungskette, mit überschaubaren Spielregeln.
Doch all dies soll sich schon bald dramatisch ändern…
Wer mehr wissen will:
Ditfurth, Hoimar von (1976): „Der Geist fiel nicht vom Himmel“, Hoffmann und Campe.
Das Buch entspricht sicherlich nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung, ich erwähne es trotzdem, weil Hoimar von Ditfurth mit seinen Büchern und seiner Fernsehreihe "Querschnitt" damals mein Interesse für Naturwissenschaften geweckt hat.
Bildnachweis:
Vorkambrisches Urmeer: Ediacaran biota (pinterest.fr)
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