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Die Erfindung der Schrift: ein Stück Unsterblichkeit

Autorenbild: Jens BottJens Bott

Aktualisiert: vor 5 Stunden


Wie wird man unsterblich?

Seit etwa 100.000 Jahren können wir sprechen.[i] Doch erst seit 5.000 Jahren sind wir in der Lage, das gesprochene Wort auch dauerhaft zu konservieren – eine Errungenschaft von kaum zu überschätzender Tragweite. Dank dieser Fähigkeit kennen wir heute noch die Gesetze des babylonischen Königs Hammurapi, die Geschichte Gilgameschs, die Gesänge Homers, die Bibel, die Lehren des Konfuzius, die rhetorische Brillanz eines Marcus Tullius Cicero, den Koran, das Nibelungenlied, die Dramen Shakespeares, Diderots Encyclopédie oder die revolutionären Ideen eines Karl Marx. Wörter, die nicht aufgezeichnet werden, sind unwiederbringlich verloren. Einstein hätte trotz aller Genialität seine Theorien nicht entwickeln können, wenn nicht zahllose Physiker und Mathematiker seit Jahrhunderten ihre Erkenntnisse aufgeschrieben hätten. Die Schrift ist ein Sieg über das Vergessen und den Tod – sie ist ein Stück Unsterblichkeit.


Bildersprachen

Der Wunsch, Gedanken für die nächsten Generationen zu bewahren, ist so alt wie das Denken selbst. Der älteste Versuch, nach der Ewigkeit zu greifen, ist die Lyrik. Als Gedichte oder Gesänge lassen sich Mythen und Erzählungen über Jahrhunderte mündlich überliefern.[ii] Dahinter steckt das neurobiologische Phänomen, dass mit Melodien, Rhythmen und Reimen versehene Geschichten vom Gehirn besser assoziiert und abgespeichert werden können.

Ein Gemälde zeigt wilde Rinder und Pferde Brauntönen auf eine Felswand gemalt
Ein Gemälde aus der Höhle von Lascaux

Die ältesten bildlichen Zeugnisse der menschlichen Kultur sind die über 40.000 Jahre alten Höhlenbilder von El Castillo in Spanien; in der Höhle von Lascaux in Frankreich, die 20.000 Jahre später bemalt wurde, finden sich bereits wahrscheinlich abstrakte Symbole. Mit Beginn der Sesshaftigkeit wurden die Bilder in den Dienst der immer komplexer werdenden Gesellschaftssysteme gestellt. Die steinzeitlichen Bildergeschichten vereinfachten sich mit der Zeit zu Piktogrammen. Im Fruchtbaren Halbmond entstanden daraus um 3.400 v. Chr. die ersten echten Schriftsysteme: In Sumer die Urform der Keilschrift, in Ägypten fast zeitgleich die Hieroglyphen.[iii] 


Farbige Abbildung eines Hieroglyphenfragments mit verschiedenen Vögeln
Von Südfrankreich an den Nil: Hieroglyphen als bildliche Ideogramme - später durch Phonogramme ergänzt.

Die ersten überlieferten Texte sind langweilige Wirtschaftsprotokolle aus Uruk. Bei der Wiedergabe abstrakter Begriffe und Ideen, stießen die Piktogramme jedoch schnell an Grenzen. Einzelne Zeichen begannen daher übertragene Bedeutungen anzunehmen. Das Symbol für Sonne stand nun auch für „Tag“, Mond für „Monat“, Fuß für „gehen“, Stern für „Gott“, ein Vogel für „klein“ oder „schwach“. Aus der Kombination von Symbolbildern ließen sich neue Bedeutungen schaffen: Die Zeichen für Wasser und Auge ergaben zusammen „weinen“. Mit Beginn der frühen Bronzezeit hatten sich die Piktogramme so zu Ideogrammen entwickelt, mit denen sich auch nichtdingliche Vorstellungen darstellen ließen. Während die ägyptischen Hieroglyphen überwiegend bildhaft blieben, entwickelte sich in Sumer ein Zeichensystem, bei dem die ursprünglich gegenständlichen Darstellungen mehr und mehr zu einer abstrakten Anordnung keilförmiger Striche wurde.

 

Die nächste Entwicklungsstufe: Laut- und Silbenschriften

Vor etwa 4.000 Jahren vollzog sich in Ägypten dann der nächste bemerkenswerte Entwicklungssprung: Man begann den Ideogrammen Laute zuzuordnen und sie somit zu Phonogrammen zu machen. Das neu entstandene Schriftsystem, eine Mischung aus Bildern und Lautsymbolen, funktionierte nach dem Prinzip eines Rebus, eines Bilderrätsels.

Ein Foto einer in einen Fels gehauenen großen Keilschrifttafel
Die Keilschrift war bereits wesentlich abstrakter als die ägyptische Bilderschrift

Mit der Zeit wuchs der Anteil der Laute; die Phoneme begannen die Schriftsysteme zunehmend zu durchdringen, so dass sich nun immer größere und komplexere Sinnzusammenhänge darstellen ließen. Der nächste logische Schritt waren Silbenschriften, bei denen ein Schriftzeichen mehrere aufeinanderfolgende Laute repräsentierte.

 

Die Erfindung des phonetischen Alphabets

Vor 3.000 Jahren erfanden dann die Phönizier, im Gebiet des heutigen Libanon, das erste rein phonetische Alphabet. Jeder der 22 Buchstaben stand nun nur noch für einen einzelnen Lautwert – eine Idee von genialer Einfachheit. Das Phönizische konnte als semitische Sprache, wie heute noch das Arabische und Hebräische, auf die Darstellung von Vokalen verzichten, so dass die erste phonetische Schrift ein reines Konsonantenalphabet war. Im Osten verdrängte das aus dem phönizischen System hervorgegangene aramäische Alphabet nach und nach die Keilschrift und wurde zur Grundlage der späteren arabischen und hebräischen Schreibsysteme. Über die weitreichenden Handelsbeziehungen der Phönizier verbreitete sich ihre revolutionäre Idee im gesamten Mittelmeerraum. So gelangte sie zunächst nach Kreta und von dort auf das griechische Festland. Die Griechen veränderten die Schriftsymbole leicht und ergänzten sie um Zeichen für ihre Vokale.

eine Schwarzweiß-Szene am Hafen zeigt Händler und Seeleute, die Waren ausladen
Wer hat's erfunden? Phönizische Händler in der Vorstellung eines Künstlers aus dem 19. Jahrhundert.

Die Entstehung der griechischen und lateinischen Schrift

Damit war um 800 v. Chr. die erste Vollschrift entstanden, die alle grundlegenden Phoneme jeweils durch einen Buchstaben repräsentierte. Durch Kontakt mit den griechischen Kolonien im Süden Italiens übernahmen die Etrusker das griechische Alphabet, wobei sie das Erscheinungsbild der Buchstaben erneut etwas modifizierten. Die Anpassung der etruskischen Schrift durch ihre Nachbarn, die Römer, führte zu unserem heutigen lateinischen Alphabet, das von Italien aus zunächst den größten Teil Europas und später im Zuge des Imperialismus weite Teile der Welt eroberte. Ein Ableger des griechischen Alphabets, die kyrillische Schrift, entwickelte sich später durch die Missionarstätigkeit griechischer Mönche zum Standardsystem für die süd- und ostslawischen Sprachgebiete.


Eine tabellarische Darstellung, die die vier Systeme in Spalten nebeneinander stellt
Das phönizische Alphabet und sein geschichtlichen Nachfolger. Das phönizische Aleph, das soviel wie Rind bedeutet, ist aus der stilisierten Darstellung eines Stierkopfs entstanden.

Vom weltweiten Siegeszug phonetischer Alphabete blieb allein die chinesische Schrift ausgenommen, sie basiert bis heute primär auf Ideogrammen (aus ihr ist auch die japanische Kanji-Schrift und das koreanische Hanja hervorgegangen). Um den Preis, dass mehrere tausend Schriftzeichen gelernt werden müssen, erkauft sich das chinesische System den einzigartigen Vorteil, dass alle Schriftkundigen sich auch dann über Zeichen verständigen können, wenn sie selbst verschiedene Sprachen oder Dialekte sprechen.

Chinesische Kalligraphie
Chinesische Schrift: Wenn man sie mal gelernt hat, bietet sie einen unschlagbaren Vorteil
Weltkarte, die die geographische Verbreitung der verschiedenen Schriftsysteme zeigt; es dominiert optisch die lateinische Schrift
Die heutige Verbreitung der verschiedenen Schriftsysteme - sie sind fast alle phonetisch

Die Erfindung der Schrift: eine einzigartige Kulturleistung

Innerhalb kurzer Zeit hatte sich die Schrift aus ihren Anfängen als Buchhaltungssystem zu einem Instrument entwickelt, mit dem sich der Zusammenhalt von Zivilisationen nicht nur administrativ, sondern auch kulturell begründen ließ. Auf Tontafeln, Papyrus, Pergament, Papier und elektronischen Datenträgern hallen längst gedachte Gedanken bis heute nach. Manche zeigen uns, dass Schreiben auch eine Kunst sein kann. Große Literaten sind große Menschenkenner. In ihren Texten finden sich die ewigen Themen des Lebens – Liebe, Treue, Freundschaft, Feindschaft, Verrat, Sieg und Niederlage, das ganze merkwürdige Geflecht menschlicher Beziehungen. Manchmal zeigt uns Literatur die kleinen Dinge, vermeintliche Nebensächlichkeiten, die unserer Aufmerksamkeit entgangen sind. Die fast dreitausend Jahre alten Geschichten des Homer nehmen uns noch heute mit auf die Reise und ein dreizeiliges Haiku kann uns nachdenklich machen. Die Schöpfer großer Texte verschieben die Grenzen des Unsagbaren und lassen die Dinge in einem andern Licht erscheinen. Ihre Bilder bringen etwas in uns zum Schwingen. „Literatur beschreibt die Realität nicht nur, sie fügt ihr etwas hinzu.“[iv]



 

Bildnachweise:


Anmerkungen:

[i] Atkinson, Quentin (2011): „Phonemic Diversity Supports a Serial Founder Effect Model of Language Expansion from Africa” in: Science Magazine. Nr. 332.; . 346–349

[ii] Der amerikanische Literaturforscher Joseph Campbell stellt in seinem Standardwerk „Der Heros in tausend Gestalten“ die Gemeinsamkeit zahlreicher mythischer Heldengeschichten heraus, die sich in Märchen, Religionen und antiken Heldenepen widerspiegeln. Apollo, Wotan, Buddha, Jesus, Siegfried, Beowulf, der Märchenprinz oder auch Harry Potter machen auf ihrem Lebensweg ähnliche Erfahrungen. Gesellschaften festigen ihren Zusammenhalt ganz offenbar durch gemeinsame Mythen, die nach bestimmten, stereotypen Mustern strukturiert sind.

[iii] Ob beide Systeme unabhängig voneinander entstanden oder die Ägypter das sumerische System übernommen haben, ist umstritten. Die chinesische und die aztekische Schrift, die rund 2.000 beziehungsweise 2.700 Jahre später auftauchten, sind in jedem Fall unabhängige Erfindungen.

[iv] Ein Zitat von C.S. Lewis.

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