Meister der Raumbeherrschung
Eine der Säugetierordnungen, die sich im Paläogen herausgebildet hat, sind die Primaten, vegetarische Gruppentiere, die ihr Leben auf Bäumen verbringen. Der innere Finger ist den anderen Fingern gegenüberliegend angeordnet, so dass sich Äste gut umklammern lassen. Während ihr Geruchssinn hinter dem vieler anderer Säugetiere zurückbleibt, ist das räumliche Sehvermögen hoch entwickelt: Wie bei Raubtieren sind die Augen vorne angeordnet, so dass sich die beiden Blickfelder überschneiden. Dadurch lassen sich Dimensionen, Entfernungen und Bewegungen von Objekten erfassen, ohne dass dabei der Kopf bewegt werden muss – eine für Baumbewohner außerordentlich hilfreiche Fähigkeit. Die Primaten sind Meister der Raumbeherrschung.
Ein folgenreicher geologischer Wandel
Der Kontinentalbruch in Ostafrika hat im Laufe der Jahrmillionen einen stellenweise bis zu mehreren hundert Kilometer breiten Graben geschaffen. An seinen Rändern sind hohe Gebirge entstanden, an denen sich nun die von Westen heranziehenden Wolken abregnen. Östlich des Grabens setzt dadurch ein Klimawandel ein; die tropischen Regenwälder weichen nach und nach einer ausgedehnten Savannenlandschaft. Der Zufall will, dass sich die Affen, Angehörige einer Primaten-Untergruppe, nun auf beiden Seiten des Grabens in unterschiedlichen Ökosystemen wiederfinden. Im Osten versiegen nach und nach die herkömmlichen Nahrungsquellen; die dort lebenden Affen müssen lernen, mit den neuen Gegebenheiten zurecht zu kommen. Die trockene Savannenlandschaft zwingt sie auf der Suche nach den seltener werdenden Baumfrüchten, immer weitere Strecken zu gehen. So kommt es allmählich zu einer Anpassung an ein Leben auf dem Boden. Die evolutionären Mechanismen belohnen Mutationen, die aus dem Greiffuß einen Lauffuß werden lassen. Becken und Beinmuskulatur werden kräftiger, die Beinknochen ordnen sich kraftsparend unterhalb des Rumpfes an. Die weitreichendsten Folgen aber hat der Umbau der gekrümmten Wirbelsäule: Wenn sie sich mühsam aufrichten, können die Savannen-Affen in den Graslandschaften den Überblick behalten – ein gewichtiger Vorteil in einem Ökosystem, in dem es vor Raubtieren nur so wimmelt. Doch der aufrechte Gang ist keine naheliegende Strategie und der Aufwand für den anatomischen Umbau gewaltig. Die neue Gangart begünstigt zunächst die Entwicklung einer ersten Biegung des Rückgrats nach vorne; doch der Oberkörper bleibt dabei instabil, er hat Tendenz, nach vorne zu kippen. Eine zweite Biegung, diesmal nach hinten, gleicht dies wieder aus: Die Wirbelsäule hat nun eine doppelte S-Form angenommen. Wie eine Feder dämpft sie die Erschütterungen des aufrechten Gangs, so dass sich die neue Bewegungsart nicht nachteilig auf das empfindliche Gehirn auswirkt.
Eine neue Gattung entsteht
Vor 4,5 Millionen Jahren besiedelt die Vormenschengattung des Australopithecus weite Landstriche im Osten und Süden Afrikas. Sein Gehirn ist im Verhältnis zum Körper mit 500 cm3 auffallend groß. Wie alle Affenarten lebt er in Gruppen und ist in der Lage, Stöcke als einfaches Werkzeug zu gebrauchen. Seine Ernährung hat er notgedrungen weitgehend von weichen Baumfrüchten auf härtere Nahrungsquellen wie Nüsse, Wurzeln und Knollen umgestellt.
Zwei Millionen Jahre später hat sich aus dem Australopithecus die neue Gattung „Homo“ entwickelt. Ihre frühesten Vertreter sind der zeitgleich lebende Homo rudolfensis, benannt nach seiner Fundstelle am afrikanischen Rudolfsee, und der Homo habilis, der „geschickte Mensch“. Die neue Gattung unterscheidet sich vom Australopithecus durch ein weniger stark hervorspringendes Kinn und ein um bereits 25% größeres Gehirn. Menschen sind die ersten intelligenten Designer im Lebensbaum, ihr Erscheinen ist das bislang jüngste Schlüsselereignis der biologischen Evolution und zugleich der Beginn der kulturellen Evolution. Die ersten Menschen können aus Steinen Faustkeile zurechtschlagen – es ist der Beginn der Altsteinzeit. Die Nahrungspalette hat sich erweitert: Homo ist vom Vegetarier zum Allesfresser mutiert. Er ist noch kein geschickter Jäger, daher ist Aas die wichtigste Proteinquelle.
Energieeffizienz als Motor der kulturellen Evolution
Mit Homo ergaster, dem „arbeitenden Mensch“, betritt vor etwa 1,9 Millionen Jahren die nächste Menschenart die Bühne der Vorgeschichte. Sein Gehirn weist bereits ein Volumen von rund 900 cm3 auf, verbunden mit deutlich verbesserten kognitiven Fähigkeiten. Statt bloßer Faustkeile fertigt Ergaster Steinmesser und Steinäxte an. Die neue Art versteht sich zudem auf einen effizienten Umgang mit Energie:
Die Anordnung der Oberschenkelknochen direkt unter dem Becken ermöglicht einen kraftsparenden Gang. Vor allem aber hat sich der Mensch das Feuer als Energiequelle erschlossen. Zwar kann er es noch nicht selbst entzünden, doch er ist in der Lage, es zu zähmen und zu bewahren. Das Feuer wärmt nachts die Sippe und vertreibt Raubtiere. Noch wichtiger aber ist, dass sich mit ihm auch harte pflanzliche Nahrung und zähes Fleisch weichkochen lässt. Komplexe Zucker und Proteine können nun wesentlich besser verwertet werden. Im Laufe der Jahrhunderttausende führt die weichere Nahrung zu einer Verkürzung des Darmtraktes, der sich nun kaum noch um schwer zu verwertende Rohkost kümmern muss; Zähne und Kaumuskulatur bilden sich zurück. Die durch die effizientere Ernährung gewonnene Energie wird in das Wachstum des Gehirns investiert. Erstmalig ist ein neuer Evolutionsmechanismus wirksam geworden: Eine erworbene Kulturtechnik hat Auswirkungen auf die weitere anatomische Entwicklung einer Gattung.
Aus dem Homo ergaster geht relativ rasch eine neue Menschenart hervor, der Homo erectus, der „aufrechte Mensch“. Sein Gehirn wird mit der Zeit ein Volumen von über 1200 cm3 erreichen. Den größten Teil seiner Körperbehaarung hat er verloren; seine Temperatur reguliert er über zahlreiche, am ganzen Körper verteilte Schweißdrüsen. Seine Fähigkeit, schwitzen zu können ermöglicht Erectus ausdauernde Streifzüge durch die ostafrikanischen Savannen. Erectus kann Feuer selbst entfachen, Werkzeuge und Waffen herstellen und betreibt eine planvolle Jagd. In der Nahrungskette hat er sich damit beträchtlich nach oben gekämpft: Der Mensch ist vom Aasfresser zum gefürchteten Räuber geworden.
Ein ganz besonders soziales Wesen
Die neue Gattung hat eine Fortpflanzungsstrategie entwickelt, die sich deutlich von der anderer Primaten unterscheidet. Der Zeitpunkt des weiblichen Eisprungs ist für Artgenossen nicht mehr sichtbar, der Dimorphismus zwischen den Geschlechtern hat sich reduziert – deutliche Zeichen für eine Abkehr von der Promiskuität. Mit dem Gehirn ist auch der Schädelknochen gewachsen, Geburten sind dadurch zu einem beträchtlichen Risiko geworden. Die Homo-Arten bringen daher, im Vergleich zu anderen Säugetieren, Frühgeburten zur Welt. Die Jungen bleiben lange von ihren Eltern abhängig, die sexuelle Reife setzt erst spät ein. Die Zeit bis dahin wird benötigt, um die überlebenswichtig gewordenen Kulturtechniken zu erlernen.
Kollektive Kinderbetreuung, Bewahrung des Feuers, Herstellung von Waffen und Gerätschaften oder gemeinsame Jagd erfordern soziale Kompetenz und eine differenzierte Kommunikation. Wissen muss weitergegeben, Pläne müssen abgestimmt, soziale Beziehungen gepflegt werden. Eine kleine anatomische Veränderung erweist sich hierfür als hilfreich: Kehlkopf und Zungenbein, ursprünglich für die Koordination von Atmen und Schlucken zuständig, senken sich ab; zusammen mit dem verkleinerten Gebiss und der reduzierten Kaumuskulatur sind damit die Voraussetzungen für eine kontrollierte Lautbildung geschaffen: Bestimmte Stellungen von Lippen und Zunge kombiniert mit Schwingungen der Stimmbänder im Kehlkopf ermöglichen es nun nuancierte Töne zu erzeugen.
13,8 Milliarden Jahre lang haben Naturgesetze und evolutionäre Zufälle immer höher aggregierte Formen von Materie entstehen lassen. Ihre bisher komplexeste irdische Errungenschaft, das menschliche Gehirn, durchläuft in nur wenigen hunderttausend Jahren eine spektakuläre Entwicklung, während der sich sein Volumen fast verdoppelt. Im Wettbewerb der Organe um die Versorgung mit knapper Energie, hat der Mensch auf das zentrale Nervensystem gewettet. Sein hoch entwickeltes Gehirn befähigt ihn nun, Probleme nicht mehr allein durch Ausprobieren, sondern auch durch Nachdenken, durch die Analyse von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, zu lösen. Das Vermögen, Alternativen zu erkennen, zu bewerten und dann zu entscheiden, ist zum evolutionären Alleinstellungsmerkmal der neuen Gattung geworden.
Out of Africa
Bereits kurz nach seinem Erscheinen, vor 1,8 Millionen Jahren, verlässt Homo erectus seinen angestammten Kontinent. Langsam, über einen Zeitraum von 500.000 Jahren, erobert er ganz Südasien, gelangt bis nach China und Indonesien. Teile einer zweiten Auswanderungswelle wenden sich nach Norden, erreichen Kleinasien und das eiszeitliche Europa, wo aus dem Erectus die neue Art des Neandertalers hervorgeht.[i]
Vor 300.000 Jahren taucht in Afrika eine neue Menschenart auf. Wie der Neandertaler ist auch sie aus dem Erectus hervorgegangen, doch schlanker gebaut und mit einem noch größeren Gehirn ausgestattet. Diese Affenart wird sich selbst später in aller Bescheidenheit den Namen Homo sapiens, der „weise“ oder „vernünftige“ Mensch geben. Er unterscheidet sich nur in einem Prozent seiner Gene von den Menschenaffen, mit denen er sechs Millionen Jahre zuvor noch einen gemeinsamen Vorfahren hatte.
Hier beginnt, so möchten wir meinen, unsere eigene Geschichte. Aber das stimmt nicht. Wir sind Kinder des Urknalls. Unser Abenteuer hat bereits vor Milliarden Jahren begonnen.
Mit diesem Blogbeitrag endet die Artikelserie „Geschichte des Universums“
Die Fortsetzung erfolgt in der Artikelserie „Geschichte der Menschheit“ mit dem Beitrag „Vom Anfang bis zum Beginn der Antike“
Wer mehr wissen will:
Krause, Johannes / Trappe Thomas (2020): „Die Reise unserer Gene“, Ullstein.
Krause, Johannes / Trappe Thomas (2021): „Hybris"
Darwin Charles (1982) „Die Abstammung des Menschen“, Kröner.
Bildnachweise:
Anmerkungen:
[i] Ob es sich beim Neandertaler tatsächlich um eine eigene Art oder eine Unterart des Erectus handelt, ist umstritten. Als asiatische Erectus-Unterarten gelten insbesondere der Peking-Mensch, der Denisova-Mensch und der Java-Mensch.
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