Tod eines Naturphilosophen
Der Delinquent war ein Privilegierter des Ancien Régime. Als Steuerpächter war er reich geworden und hatte so den Unmut der französischen Revolutionsregierung auf sich gezogen - mit der Folge, dass er am 8. Mai 1794 in Paris auf dem Place de la Concorde hingerichtet wurde. Eine nicht verbürgte Anekdote will, dass der Verurteilte sich zuvor mit seinen Freunden zu einem letzten Experiment verabredet hatte. Er wollte, nachdem der Kopf abgetrennt war, so lange wie möglich blinzeln, um der Nachwelt Aufschluss zu geben, wie lange sein Bewusstsein noch arbeitete. Er soll elfmal geblinzelt haben.
Mit Antoine Laurent de Lavoisier starb unter der Guillotine der Begründer der modernen Chemie. Ob die Anekdote nun stimmt oder nicht, sie passt zu dem Bild, das wir von den Naturphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts haben: Sie waren von einer rast- und grenzenlosen Neugier getrieben. Lavoisier hat für die Chemie eine ähnliche Bedeutung, wie Newton für die Physik. Im Alleingang, bei seinen Experimenten nur durch seine Frau Marie unterstützt, entdeckte er mehrere grundlegende chemische Prinzipien, allen voran die Oxidation und das Gesetz der Massenerhaltung, erforschte Gärungsprozesse, stellte eine Theorie der Säuren auf und etablierte die bis heute gültigen Standards für die Durchführung chemischer Experimente. Das prominente Opfer der Französischen Revolution war der Vater der Chemischen Revolution.
Zu Lavoisiers herausragenden Beiträgen gehört auch die Zerstörung des letzten Fragments einer uralten Theorie: Der Franzose wies als Erster nach, dass auch Wasser – nach der Lehre des griechischen Philosophen Empedokles, neben Erde, Luft und Feuer, das vierte antike Element – ein zusammengesetzter Stoff war.
Von der Alchemie zur modernen Chemie
Das griechische Wort „chimeia“ bezeichnete ursprünglich die Kunst, Metalllegierungen herzustellen. Der arabische Kulturkreis, der wichtige Teile des antiken Wissens während des Mittelalters bewahrte, übernahm den Begriff als „al-kīmiā“. Zahlreiche unserer heutigen chemischen Begriffe, wie Alkohol, Kalium, Natrium, Alkali oder Elixier, gehen unmittelbar auf das Arabische zurück und zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung des Morgenlands mit der Wandelbarkeit der Stoffe.
Im späten Mittelalter gelangte dieses Wissen aus dem Orient nach Europa, wo sich die Adepten der neuen Wissenschaft bald als Alchemisten bezeichneten. Viele waren von der Idee besessen, mithilfe einer mystischen Substanz, dem Stein der Weisen, aus einfachen Stoffen Edelmetalle herzustellen.
1661 veröffentlichte der Ire Robert Boyle ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „The Sceptical Chymist“. Es markiert den Übergang von einer teils esoterisch inspirierten Halbwissenschaft zu einem fortschrittlicheren Chemieverständnis. Boyle schuf für die von ihm neu geschaffene Disziplin erstmals einen wissenschaftlichen Rahmen und führte den Begriff „Element“ für einen nicht weiter zerlegbaren Stoff ein.
Jagd auf die Elemente
Zu dieser Zeit waren erst sehr wenige Elemente bekannt: Schwefel und ein knappes Dutzend Metalle wie Eisen, Blei, Silber und Gold. Die Entdeckung des Phosphors durch den deutschen Alchemisten Henning Brand 1669 – auch er war auf der Suche nach dem Stein der Weisen – markierte den Auftakt zu einer langen Serie neuer Funde. Abergläubische sächsische und böhmische Bergleute förderten im Erzgebirge Gesteine zu Tage, deren Metalle zwischen 1735 und 1783 erstmalig isoliert werden konnten und nach den Namen von Berggeistern und Raubtieren Kobalt, Nickel und Wolfram getauft wurden.
Der deutsch-schwedische Naturforscher Carl Wilhelm Scheele entdeckte in den 1770er Jahren Stickstoff, Chlor und Sauerstoff, sein deutscher Zeitgenosse Martin Heinrich Klaproth Uran, Zirkonium und Cer.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war den Entdeckern der elementare Charakter der von ihnen gefundenen Stoffe meist nicht bewusst. Erst der systematische Einsatz der Elektrolyse durch Sir Humphry Davy erlaubte es zu Beginn des 19. Jahrhundert, die elementare Natur der Stoffe systematisch zu bestimmen. Mit seiner Methode entdeckte Davy innerhalb kurzer Zeit Natrium, Kalium, Barium, Strontium, Calcium und Magnesium. 1859 fanden der Physiker Gustav Robert Kirchhoff und der Chemiker Robert Wilhelm Bunsen eine weitere Methode, mit der sich neue Atomsorten systematisch aufspüren ließen. Sie hatten beobachtet, dass die meisten Elemente bei ihrer Verbrennung eine spezifische Farbe emittieren. So leuchtet die Flamme bei Lithium rot, bei Natrium gelb und bei Cäsium blau – ein quantenphysikalischer Effekt, den die beiden Forscher noch nicht erklären konnten. Mit ihrem spektroskopischen Verfahren konnten Kirchhoff und Bunsen die von ihnen untersuchten Stoffe auf die Anwesenheit bestimmter Elemente hin untersuchen. Sie entdeckten auf diese Weise Cäsium und Rubidium. (Bei Rubidium wurde die rubinrote Spektrallinienfarbe zum Namensgeber für das neue Element.) Andere Wissenschaftler sollten mit dieser Methode in den folgenden Jahren noch rund 20 weitere Elemente aufspüren.
Perlen auf einer Schnur
John Dalton, Schöpfer des ersten Atommodells, hatte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts einen Weg gefunden, das Gewicht der einzelnen Elemente relativ zum Wasserstoff zu bestimmen, indem er für verschiedene chemische Reaktionen die Proportionen der Einsatzstoffe analysierte. Damit ließen sich nun die Atomsorten der Größe nach wie Perlen auf einer Schnur aufreihen. Dimitri Mendelejew und Lothar Meyer waren die Ersten, die, unabhängig voneinander, in dieser Kette eine Gesetzmäßigkeit entdeckten: Das zweite, zehnte und achtzehnte Element waren allesamt Gase, die sich durch nichts zu einer chemischen Reaktion verführen ließen. Das jeweils folgende dritte, elfte und neunzehnte Element war hingegen in allen Fällen ein sehr reaktionsfreudiges, weiches, silbrig glänzendes Metall mit niedrigem Schmelzpunkt. Die Vorgänger der trägen Gase auf der Perlenschnur waren wiederum hochreaktive bunte Nichtmetalle. Die periodische Wiederholung ähnlicher Eigenschaften vollzog sich stets in einem Achterrhythmus. Schritt man von den Edelgasen ausgehend innerhalb der Achtergruppen voran- oder zurück, nahm die Reaktionsneigung bis zur Mitte der Gruppe ab und danach wieder zu. Das Muster war so deutlich, dass Mendelejew dort, wo die Reihe Lücken aufwies, die Existenz noch unentdeckter Elemente vorhersagte und deren Eigenschaften prognostizierte. Seine Voraussagen sollten sich als absolut zutreffend erweisen. In dem unvollständigen Puzzle hatte er als Erster das ganze Bild erblickt.
Weiterführende Literatur:
Sacks, Oliver (2003): „Onkel Wolfram: Erinnerungen“, Rowohlt.
Günter Klar, Armin Reller (2023): „Das Werden der Chemie“, Wiley.
תגובות