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Klassische Nationalökonomie: David Ricardo gibt Nationen Tipps zum Reichwerden und Thomas Malthus äußert eine düstere Prophezeiung

 

David Ricardos Außenhandelstheorie

Der Wohlstand der Nationen“ ist die Grundlage dessen, was wir heute als „klassische Nationalökonomie“ bezeichnen. Die neue Betrachtungsweise sollte sich in Europa rasch verbreiten – allein in Frankreich konnten die Physiokraten noch eine Zeitlang ihren Einfluss behaupten. Eine erste bedeutsame Erweiterung des Smithschen Gedankengebäudes erfolgte Anfang des 19. Jahrhunderts durch David Ricardo (1772-1823). Ricardo entstammte einer Familie aus Portugal eingewanderter Juden und hatte sich als erfolgreicher Börsenmakler einen Namen gemacht. Das Vermögen, das er dabei erwirtschaftet hatte, ermöglichte es ihm, sich bereits in jungen Jahren zurückzuziehen und sich seinen vielfältigen Interessen zu widmen. Die Lektüre von „Der Wohlstand der Nationen“ weckte seine Neugier für die noch junge ökonomische Theorie. Insbesondere interessierte er sich für Smiths Überlegungen zum Außenhandel. Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung entsteht nicht nur in einer Manufaktur, sondern auch zwischen verschiedenen Nationen. Entgegen der herrschenden Meinung seiner Zeit war Smith zu dem Schluss gekommen, dass internationaler, freier Warenverkehr für alle Beteiligten von Vorteil ist, wenn ein Land Güter exportiert, bei denen es gegenüber dem importierenden Land einen Arbeitskostenvorteil hat.


Portrait von Ricardo von 1821 in sehr dunklen Tönen gehalten
David Ricardo gibt Nationen Tipps zum Reichwerden

Ricardo analysierte diese Überlegung eingehend und kam zu einer bemerkenswerten Einsicht, die er anhand eines berühmt gewordenen Beispiels illustrierte: Demnach können England und Portugal beide sowohl Wein als auch Tuch herstellen. Portugal kann jedoch beides billiger. Die Portugiesen benötigen für die Herstellung von 100 Rollen Tuch 90 Arbeiter, für die Herstellung von 100 Fässern Wein 80 Arbeiter. England benötigt für die jeweils gleichen Mengen bei der Tuchproduktion 100 Arbeitskräfte, bei der Weinproduktion 120. Während das produktivere Portugal also nur 170 Menschen beschäftigen muss, muss England für das gleiche Güterbündel 220 Arbeiter aufbieten.



Situation ohne Außenhandel

 

Ricardo stellte sich die Frage, ob es sich unter diesen Bedingungen für Portugal überhaupt lohnt, mit England Handel zu treiben – schließlich kann es beide Güter billiger herstellen als die neblige Insel im Norden. Die überraschende Antwort lautet: ja. Handel lohnt sich für beide Seiten auch dann, wenn ein Land bei allen Gütern einen absoluten Kostenvorteil hat. Das billigere Land muss sich nur auf das Gut konzentrieren, bei dem es am produktivsten ist. Portugal sollte sich also ganz auf die Weinherstellung spezialisieren und das Tuchmachen den Engländern überlassen. Diese internationale Arbeitsteilung erlaubt es beiden Ländern mit den gleichen Ressourcen insgesamt 10% mehr Tuch und 6,25% mehr Wein herzustellen.

 

Situation mit Außenhandel

 

Ricardo erklärt dieses überraschende Ergebnis mit dem „komparativen Vorteil“. Dahinter steckt eine neue, zunächst etwas abstrakt erscheinende Betrachtung: das Denken in Opportunitätskosten. Dabei handelt es sich nicht um herkömmliche Kosten im Sinne von Aufwendungen, die ein Produzent oder Käufer tragen muss, sondern um die Bewertung der bestmöglichen Alternative, gegen die man sich entschieden hat. Die Wahl, eine knappe Ressource für etwas Bestimmtes zu verwenden, bedeutet in einer Welt knapper Güter nämlich immer auch den Verzicht auf eine alternative Verwendung.


Ölgemälde: Stillleben mit Weinflaschen auf einem weißen Tischtuch
Wein und Tuch: Was braucht man mehr?

Was heißt das nun für die beiden Handelspartner? Wenn England keinen Handel treibt, muss es alle Güter selbst herstellen. Die Arbeiter, die für die Weinherstellung eingesetzt werden, stehen der Tuchproduktion nicht mehr zur Verfügung. Die englische Produktivität ist allerdings bei der Weinherstellung mit nur 0,83 Fässern pro Arbeiter eher gering. Jedes zusätzliche Fass Wein wird daher mit einem Verzicht auf 1,2 Einheiten Tuch (dem Kehrwert von 0,83) recht teuer erkauft. Aus portugiesischer Sicht hingegen bedeutet ein weiteres Fass Wein aufgrund der höheren Produktivität nur den Verzicht auf 0,89 Rollen Tuch (der Kehrwert von 1,1). Die portugiesischen Opportunitätskosten für weniger Tuch liegen also unter dem englischen Wert von 1,2. Umgekehrt muss Portugal für eine zusätzliche Rolle Tuch auf 1,125 Fässer Wein verzichten, England aber nur auf 0,83. Die Engländer sind hier im Vorteil. Beide Nationen fahren also besser, wenn die Portugiesen ihr Tuch in England kaufen.

 

Thomas Malthus‘ düstere Prognose

Ricardos Zeitgenosse Thomas Malthus (1766-1834) war der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Nationalökonomie überhaupt. Bekannt wurde er aber vor allem für seine 1798 veröffentlichte düstere Demographiethese, in der er behauptete, dass das Bevölkerungswachstum exponentiell verlaufe, die Entwicklung der Nahrungsmittelproduktion hingegen nur linear. Daher müssten Hungersnöte, Kriege oder Seuchen zwangsläufig einen Ausgleich herbeiführen.

Stich von Robert Malthus in würdevoller Kleidung
Sagte eine Katastrophe voraus: Thomas Robert Malthus

Die einzige Möglichkeit dies zu verhindern, sah Malthus in einer strengen Geburtenkontrolle. Die bedrückende Vorstellung, dass Mutter Natur den Tisch nicht für alle ihre Geschöpfe deckt, war eine zentrale Inspiration Darwins für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie. 1848 erhärtete John Stuart Mill mit seinem Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs Malthus‘ These: Zwar ist es möglich, die landwirtschaftliche Ausbringung durch mehr Arbeit pro Flächeneinheit zu steigern, doch der Ertrag wächst stets nur unterproportional zum Arbeitseinsatz. Jede weitere Arbeitseinheit erzeugt einen immer kleiner werdenden Zusatzertrag, bis dieser irgendwann null beträgt oder sogar abnimmt.


Was ist der Wert eines Guts?

Mills Beobachtung ist Ausdruck einer neuen Denkweise, die den Übergang von der klassischen zur neoklassischen Nationalökonomie markiert. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin war die Fundamentalkritik, die der Franzose Jean-Baptiste Say (1767-1832) an Smiths Arbeitswerttheorie übte.


Wie Mill war auch er ein überzeugter Anhänger des Benthamschen Utilitarismus. Der Wert eines Gutes hatte für Say nichts mit dem investierten Betrag an Arbeit zu tun, sondern wird allein durch den Nutzen bestimmt, den er seinem Konsumenten stiftet. Für ein Gut, das niemand haben will, ist es völlig unerheblich, wie aufwändig es produziert wurde. Nutzen ist in höchstem Maße subjektiv und individuell. Daher kann es auch keinen objektiven Maßstab dafür geben, wieviel ein Hirsch, ein Bieber, eine Rolle Tuch oder ein Fass Wein wert sind. Im Übrigen stiften, so Say, nicht nur physische Dinge Nutzen, sondern auch immaterielle Güter wie Dienstleistungen und Rechte.


Schwarzweiß-Stich eines elegant gekleideten  Mannes
Jean-Baptiste Say führt den Nutzenbegriff ein und spaltet damit die Community

Seit Says Kritik am Arbeitswertkonzept sind die Ökonomen in zwei Lager gespalten: Diejenigen, die wie Smith, Ricardo und später Karl Marx davon ausgingen, dass der Wert eines Guts durch die in ihm verinnerlichte Arbeit objektiv bestimmbar sei, und jene, die der neuen Idee des abstrakt-subjektiven Nutzens anhingen.[i]  Beide Konzepte sollten auf höchst unterschiedliche Weise Karriere machen.







 

 

Wer mehr wissen will:

Samuelson, Paul A ; Nordhaus William D. (2010): „Volkswirtschaftslehre“, Mi-Wirtschaftsbuch.

Mankiv, Gregory / Taylor, Mark P. (2008): “Grundzüge der Volkswirtschaftslehre”, Schäffer Poeschel.


[i] Auch der deutsche Bundeskanzler hat gemäß der Eidesformel die Aufgabe, den „Nutzen des deutschen Volkes zu mehren“.

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