Ein preußischer Beamter revolutioniert die Ökonomie
Preußische Beamte entsprechen nicht gerade der landläufigen Vorstellung, die man sich von Revolutionären macht. Doch der heute kaum noch bekannte Regierungs-Assessor Hermann Heinrich Gossen (1810-1858) war einer der größten Aufrührer der ökonomischen Theorie überhaupt: Er verband Mills abnehmende Ertragszuwächse mit Says Nutzenidee und goss beides in Mathematik. Diese bemerkenswerte Synthese aus subjektiven Präferenzen und objektiver Berechnung bezeichnen wir heute als die „Marginalistische Revolution“. Sie ist gleichsam die kopernikanische Wende der Ökonomie. Vor Gossen wurden wirtschaftswissenschaftliche Theorien verbal, bestenfalls tabellarisch beschrieben. Die neue Grenznutzenschule aber basierte auf Differentialrechnung. Mit ihr ließen sich nun optimale Zustände theoretisch exakt ermitteln. Die Dogmen der daraus hervorgegangenen neoklassischen Mikroökonomie bilden bis heute das Fundament der herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Meinung.
1854 veröffentlichte Gossen eine Schrift mit dem etwas weitschweifigen Titel: „Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“. Seinen wichtigsten Gedanken beschreibt der preußische Staatsdiener gleich zu Beginn: „Der Mensch wünscht sein Leben zu genießen und setzt seinen Lebenszweck darin, seinen Lebensgenuß auf die möglichste Höhe zu steigern“.[i] Zu diesem Zweck, davon ist Gossen überzeugt, kalkulieren wir alle unablässig – bewusst oder unbewusst. Für eine genaue Berechnung müssen „alle Entbehrungen abgezogen werden, welche der wirkliche Genuß durch seine Folgen dem Menschen in seiner ganzen Zukunft auferlegen würde […]“.[ii] Wir müssen, anders gesagt, also bei der Berechnung des Nutzens auch die damit verbundenen gegenwärtigen und künftigen Kosten berücksichtigen.
Die Gossenschen Gesetze
Im Kern beruht Gossens Revolution darauf, der schwer zu fassenden Nutzenidee einen mathematischen Wert zuzuweisen, mit dem sich der Grad der Bedürfnisbefriedigung ausdrücken lässt. Das erste Gossensche Gesetz beschreibt das zugrundeliegende Prinzip des abnehmenden Grenznutzens. Der Nutzenzuwachs ist nicht proportional zur konsumierten Menge, sondern nimmt kontinuierlich ab. Tatsächlich entspricht das einer generellen Alltagserfahrung: Das erste Glas Wein erzeugt einen Nutzen – es entsteht ein gutes Gefühl, vielleicht, weil Endorphine ausgeschüttet werden. Das zweite Glas fördert unser Wohlbefinden weiter, aber in einem etwas geringerem Maße als das erste. Genauso verhält es sich mit allen weiteren Gläsern, die wir zu uns nehmen, bis wir an einen Punkt kommen, an dem eine Sättigung eintritt. Wir haben „genug“. Ein weiterer Schluck stiftet nun keinen zusätzlichen Nutzen mehr. Wenn wir dennoch weitertrinken nimmt unser Wohlergehen sogar ab – der Grenznutzen wird negativ. Damit wird auch deutlich, warum der Wert eines Gutes nicht absolut zu ermitteln ist: Er ändert sich mit jeder einzelnen betrachteten Einheit. Das siebte Glas Wein kostet genau so viel, wie das erste – sein Nutzen ist aber deutlich geringer. Für einen Bauern ist der letzte produzierte Sack Getreide in einem schlechten Jahr wertvoller als in einem guten Jahr. Für den Bewohner einer Ein-Zimmer-Wohnung ist ein weiterer Quadratmeter wichtiger als für einen Schlossherrn. Und spätestens der fünfte Fernseher im Haus dürfte in den meisten Fällen allen Bewohnern einen negativen Grenznutzen garantieren.
Das zweite Gossensche Gesetz geht der Frage nach, wie der Nutzen insgesamt maximiert werden kann. Dazu muss der Entscheider seine Ressourcen an Zeit oder Geld so auf sein Güterportfolio aufteilen, dass die letzte ausgegebene Geldeinheit für jedes Gut denselben Grenznutzen erzielt. Nur damit lässt sich das im utilitaristischen Sinne größtmögliche Glück erreichen. Was bedeutet das? Nehmen wir vereinfachend an, dass ein rationaler Entscheider nur die beiden Güter Wein und Tuch konsumiert. Solange der Grenznutzen einer weiteren Einheit Wein größer ist, als der einer weiteren Einheit Kleidung, ist es rational, die nächste verfügbare Geldeinheit für Wein auszugeben. Ein vernünftiges Individuum tut dies so lange, bis die letzte Einheit Wein denselben Nutzenzuwachs erzielt, wie die letzte Einheit Tuch. Dieses Entscheidungsmuster sichert den größtmöglichen Gesamtnutzen aus dem Konsum beider Güter. Dahinter steckt letztlich wieder Ricardos Opportunitätskostenüberlegung: Indem er den Wein wählt, bringt unser Entscheider oder unsere Entscheiderin zum Ausdruck, dass er persönlich die Opportunitätskosten des Verzichts auf neue Kleidung geringer schätzt als den Nutzen des Weinkonsums.
Die Mathematisierung der Ökonomie
Die Theorie, mit der der preußische Assessor menschlichem Handeln mathematisch auf den Grund ging, wurde zu seinen Lebzeiten nicht wahrgenommen. Um 1870 jedoch entdeckten der Franzose Léon Walras, der Österreicher Carl Menger und der Engländer William Stanley Jevons fast zeitgleich und unabhängig voneinander den Grenznutzengedanken erneut. Die drei stritten sich eine Weile um die Priorität ihrer Idee, bis sie feststellten, dass Gossen ihnen um rund 15 Jahre zuvorgekommen war.
Newtons und Leibniz‘ Differentialrechnung war das passende Werkzeug, um die sich laufend ändernden Nutzen-Zuwachsraten zu analysieren. Ursprünglich entwickelt, um die Dynamik harter Naturgesetze zu beschreiben, wurde sie nun auf die vollkommen subjektiven Vorstellungen übertragen, die Individuen mit dem Konsum von Gütern verbinden. Der Gesamtnutzen, der sich mit fortschreitendem Konsum ergibt, lässt sich als Exponentialfunktion darstellen; der Grenznutzen einer zusätzlichen Einheit ergibt sich folglich aus deren erster Ableitung. Auf dem Scheitelpunkt der Gesamtnutzenfunktion ist der Nutzenzuwachs Null. Auf dieser Grundlage lassen sich Optima berechnen, ein Kalkül, das die vormals linearen Betrachtungen nicht zuließen. Ab 1870 arbeiteten Walras, Menger und Jevons nach und nach die nötigen mathematischen Details aus, mit der sich die Entscheidungslogik der Konsumenten in der so genannten Haushaltstheorie darstellen ließ.
Der englische Ökonom Alfred Marshall (1842-1924) zeigte 1890 in seinem Standardwerk „Principles of Economics“, dass sich das marginalistische Kalkül der Konsumenten auch auf Unternehmen übertragen lässt. Auch sie wollen als durch und durch rationale Teilnehmer am Wirtschaftsleben ihren Nutzen optimieren. Sie haben hierfür nur ein anderes Wort: Gewinn. Er ergibt sich, wenn die Kosten vom Umsatz abgezogen werden. So wie die Haushalte ihr limitiertes Budget nutzenmaximierend auf verschiedene Güter aufteilen, möchten auch die Unternehmen ihre Produktionsfaktoren so einsetzen, dass sie den Gewinn maximieren. Ein Bauer kann beispielsweise den Ertrag seines Weizenfeldes mithilfe von Dünger steigern. Mit jeder weiteren Einheit Dünger nimmt der Ernteertrag zu, allerdings – wie schon von Mill festgestellt – mit kontinuierlich fallenden Raten.
Der Bauer wird also unter Berücksichtigung seiner Grenzkosten genau die Menge an Dünger einsetzen, die seinen Gewinn maximiert. Mathematisch ist dieses Optimum erreicht, wenn die Grenzkosten der letzten produzierten Einheit dem Grenzerlös entsprechen. Eine noch größere Produktionsmenge würde den Gewinn wieder verringern, weil die Kostenzuwächse dann die Erlöszuwächse übersteigen. Die neoklassische Theorie unterstellt, dass jeder Unternehmer nach dieser Maxime handelt, ganz gleich, ob er ein Weizenfeld bestellt, einen Friseursalon betreibt oder eine Fabrik für Computerchips.[iii]
Die bekannteste aller Wirtschaftsgraphiken: das Marktdiagramm
Haushalte und Unternehmen verfolgen letztlich ähnliche Ziele. Der strikten Gewinnorientierung kapitalistischer Unternehmen entspricht das konsequente Nutzenstreben der Haushalte. Beide Seiten sind zudem eng miteinander verflochten: Die Erlöse der Unternehmen sind die Kosten der Haushalte und die Einkommen der Haushalte sind die Lohnkosten der Unternehmen. Die eine Seite bietet an, die andere Seite fragt nach. Der Ort, an dem egoistische Anbieter auf selbstsüchtige Nachfrager treffen, ist der Markt. Diesen Zusammenhang stellte Marshall in einem einfachen Modell dar, dem Marktdiagramm:
Der untere Punkt auf der Angebotskurve besagt, dass bei einem Stückpreis von 2 die Anbieter bereit sind, 2 Einheiten herzustellen und zu verkaufen; der untere Punkt auf der Nachfragekurve verrät, dass die Haushalte zu diesem Preis 4 Stück nachfragen würden. Ein Teil der Konsumentenwünsche bleibt unter diesen Bedingungen unerfüllt. Die beiden oberen Punkte besagen, dass die Unternehmen bei einem Preis von 4 auch 4 Einheiten anbieten würden; die Konsumenten fragen zu diesen Konditionen allerdings nur 2 Einheiten nach. Die Anbieter würden somit auf einem Teil ihrer Ware sitzenbleiben. Ganz anders ist die Situation bei einem Stückpreis von 3: Nun decken sich die Mengen, die die Haushalte nachfragen mit den Mengen, die die Unternehmen anzubieten bereit sind. Beide Seiten haben sich gegenüber den vorherigen Szenarien verbessert, denn sie befinden sich jetzt auf einem höheren Nutzen- beziehungsweise Gewinnniveau. Es ist sogar das bestmögliche Ergebnis. Der Preis von 3 sendet an beide Seiten ein Signal der Harmonie, das dafür sorgt, dass sich angebotene und nachgefragte Menge genau entsprechen. Der Markt wird geräumt, die Wünsche aller Beteiligten erfüllt. Marshalls Modell bringt die Vorstellung zum Ausdruck, dass Märkte – so wie physikalische und biologische Systeme – mathematisch beschreibbaren, natürlichen Gleichgewichtszuständen entgegenstreben. Auf die Frage, ob denn nun das Angebot oder die Nachfrage den Preis bestimme, antwortete Alfred Marshall einmal, dass diese Frage so sinnvoll sei, wie die, ob ein Blatt Papier von der oberen oder der unteren Scherenklinge durchschnitten wird“.[iv]
Die Nachfragekurve endet am dem Punkt, an dem der Konsum einer zusätzlichen Einheit keinen Nutzenzuwachs mehr verspricht. Dem gegenüber stellt die Angebotskurve der Unternehmen die Mengen dar, die das Unternehmen zu jeweils unterschiedlichen Preisen zu produzieren bereit ist. Die Anbieter werden ihr Angebot so lange ausweiten, bis die Grenzkosten den Grenzerlösen entsprechen. Ihre Überlegung ist es nicht, wie man vordergründig meinen könnte, bei einem höheren Preis automatisch auch mehr anzubieten – die Unternehmen möchten ihren Gewinn maximieren, nicht ihren Umsatz.
Hinter Angebots- und Nachfragekurve verbirgt sich letztlich nichts anderes als die über alle Marktteilnehmer aggregierten Grenzkostenkurven der Unternehmen und Grenznutzenkurven der Haushalte. Am Schnittpunkt beider Kurven treffen Käufer mit einem hohen Grenznutzen auf Verkäufer mit niedrigen Grenzkosten. Der Preis ist das Medium, über das sich beide Seiten miteinander verständigen. Er objektiviert die Nutzen- und Gewinnerwartungen die Anbieter und Nachfrager für jeden Punkt ihrer jeweiligen Kurven haben. Der Preis stellt sicher, dass stets derjenige ein knappes Gut erhält, der dafür am meisten zu zahlen bereit ist. Er kommuniziert Anreize in einer Weise, die das Verhalten selbstsüchtiger Akteure in ein Marktgleichgewicht bringt. Der Preis ist letztlich nichts anderes, als Smiths unsichtbare Hand, die alles so wunderbar koordiniert. Marshalls Marktmodell bringt die Idee der Marginalistischen Revolution auf den Punkt und gibt Smiths geheimnisvoller Metapher einen konkreten Namen.
Massenmärkte für Menschenmassen
Portugiesischer Wein, englisches Tuch, Luxusyachten, Benzin, Internetzugänge, Büroklammern, Sachbücher, Zahnimplantate, illegale Drogen, gefälschte Ausweispapiere, Haarschnitte, Yogakurse, Währungen oder Aktien: Das Marktdiagramm ist das universelle Modell für die Massenmärkte der Industriellen Revolution. Sein Erklärungspotential ist beeindruckend. Es zeigt nicht nur, wie Preise entstehen, sondern auch, wie veränderte Bedingungen auf die Preisbildung wirken. Eine Zunahme der Anbieter weitet die Angebotsmenge aus; die Angebotskurve verschiebt sich parallel nach rechts; der Preis fällt. Erhebt der Staat auf den Konsum eines Guts eine Steuer, wird es dadurch teurer, die nachgefragte Menge fällt; auch in diesem Fall sinkt der Preis. Nimmt die Nachfrage bei gegebenem Angebot zu, verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts; der Markt findet dann über einen höheren Preis ein neues Gleichgewicht.
Wie stark sich eine Preisänderung auf das Verhalten der Haushalte auswirkt, lässt sich mit Hilfe der Preiselastizität der Nachfrage messen. Produkte des Grundbedarfs, wie Brot oder Kraftstoffe – beide haben übrigens etwas mit elementarer Energieversorgung zu tun – zeigen meist geringe Elastizitäten. Bei Preissteigerungen geht hier die Nachfrage kaum zurück, weil die Verbraucher kurzfristig auf keine anderen Produkte ausweichen können. Dagegen zeigen Luxusgüter, die verzichtbar sind, sich leicht ersetzen lassen oder deren Konsum sich aufschieben lässt, hohe Elastizitäten: Bei einer Preiserhöhung reduziert sich die nachgefragte Menge deutlich. Je höher die Elastizität, desto flacher verläuft die Nachfragekurve in Marshalls Diagramm.[v]
Auf der Unternehmensseite gibt es analoge Überlegungen. Je elastischer das Angebot, desto flacher die Angebotskurve. Für den Grenzfall eines unendlich elastischen Guts verläuft die Angebotskurve vollkommen horizontal: Die Anbieter sind bereit, zu einem festen Preis jede beliebige Menge zu liefern. Das ist ihnen möglich, weil in diesem Fall ihre Grenzkosten nicht von der hergestellten Menge abhängen. Das tausendste Weinfass kostet sie dann nicht mehr als das hundertste.
Ein Modell mit vielen idealisierenden Annahmen
Die mathematische Modellwelt der neoklassischen Theorie ist der Kern dessen, was wir heute als Mikroökonomie bezeichnen. Sie untersucht mit Mitteln der Analysis, wie egoistische Individuen interagieren, sich arbeitsteilig organisieren und ihre knappen Mittel einsetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Modellwelt auf einer ganzen Reihe weitreichender und idealisierender Annahmen beruht. Die zentrale Prämisse ist ein bestimmtes Menschenbild: der Homo oeconomicus. Nach Max Webers Überzeugung ist er eine Erfindung der Moderne, die den antiken Homo politicus ablöste, der Ökonomie lediglich als politische Nebenbedingung sah, um existenzielle Grundlagen sicherzustellen. Tatsächlich hätte vor Beginn der Neuzeit niemand Benjamin Franklins Aphorismus „Zeit ist Geld“ aus seinem Essay „Ratschläge für junge Kaufleute“ verstanden. Oeconomicus ist eine durch und durch rationale Rechenmaschine, die unablässig Funktionen ableitet, um seine persönlichen Zielvorstellungen zu maximieren. Dieses bizarre Wesen agiert, so die nächste Annahme, auf Märkten, auf denen „vollständige Konkurrenz“ herrscht. Das bedeutet, dass es so viele Anbieter und Nachfrager gibt, dass ein einzelner Akteur durch sein Verhalten die Preisbildung nicht beeinflussen kann. In der mikroökonomischen Idealwelt herrscht zudem volle Informationstransparenz: Alle sind jederzeit über sämtliche Preise sämtlicher Anbieter informiert, deren Güter zudem „homogen“, also vollkommen vergleichbar sind: Der Wein aller Winzer schmeckt immer gleich, das Tuch aller Weber ist stets von identischer Qualität.
Vor dem Hintergrund dieser Annahmen möchte die Mikroökonomie die Bedingungen verstehen, unter denen der individuelle Egoismus eine für alle Beteiligten vorteilhafte Situation schafft.
Die grundsätzliche Position der neoklassischen Theorie hierzu ist einfach: Man muss nur die unsichtbare Hand frei walten lassen! Wird die natürliche Preisfindung hingegen behindert, können die Ressourcen nicht mehr effizient alloziert werden; der Markt funktioniert nicht mehr richtig, ein fairer Interessenausgleich zwischen Anbietern und Nachfragern wird durch solche Verzerrungen unmöglich. Die wichtigste Voraussetzung für ein gutes Ergebnis ist daher vollständiger Wettbewerb. Auf den Märkten sollen so viele Konsumenten wie möglich auf so viele Produzenten wie möglich treffen; niemand darf vom Marktzugang abgehalten werden. Auf der Angebotsseite soll es rau zugehen. Die vollkommene Konkurrenz übt im Interesse der Konsumenten einen permanenten Druck auf die Gewinnmargen aus. Die Verbraucher können die Anbieter gegeneinander ausspielen und gelangen so auf ein höheres Nutzenniveau. Solange ein Unternehmen noch Gewinne erzielen kann, führt der unerbittliche Kampf um Marktanteile dazu, dass weitere Wettbewerber auf den Markt drängen und versuchen, die Konkurrenz zu unterbieten. Langfristig führt der Wettbewerb daher dazu, dass der Unternehmensgewinn gegen Null strebt.
Wirtschaftspolitische Konsequenzen
Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass die Unternehmen diesem Überlebenskampf zu entkommen suchen. Unter den Bedingungen des vollkommenen Wettbewerbs kann ein einzelner Unternehmer keine höheren Preise durchsetzen. Ihm bleibt allein, seinen Gewinn über die Absatzmenge zu beeinflussen. Die Versuchung, diese Beschränkung zu umgehen, ist groß. Die naheliegendste Möglichkeit sind Preisabsprachen zwischen Konkurrenten. Die zweite Möglichkeit ist aufwändiger, aber noch verlockender. Das Unternehmen kann versuchen, eine Monopolstellung zu erringen, indem Konkurrenten aufgekauft oder durch ruinösen Wettbewerb eliminiert werden. Danach kann der Monopolist ungestört seine Preise diktieren – eine Entwicklung die Karl Marx als letztes Stadium des Kapitalismus vor dessen unvermeidlichem Zusammenbruch ansah. Da weder Preisabsprachen noch Machtkonzentration im Sinne der Verbraucher sind, ist es aus neoklassischer Sicht die wichtigste wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates, den Wettbewerb auf den Märkten zu erhalten. Er soll Unternehmensgründungen fördern, Kartelle verbieten, Fusionen kontrollieren und Monopole verhindern. Über diesen Rahmen hinaus, darf der Staat aber keinesfalls in die Marktgeschehnisse und die Preisbildung eingreifen. Die neoklassische Mikroökonomik bewegt sich in diesem Sinne voll und ganz im Fahrwasser des politischen Liberalismus eines John Lockes oder David Humes.
Es regt sich Kritik an dem Modell
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts regte sich zunehmend Kritik an den Prämissen des mikroökonomischen Modells. Vor allem der Homo oeconomicus geriet ins Fadenkreuz. Bereits Adam Smith war sich sicher, dass es diesen rationalen Entscheider nicht gibt. In seinem zweiten großen Werk, der bereits 1759 erschienenen „Theory of Moral Sentiments“ – „Theorie der ethischen Gefühle“, hatte sich der Philosoph unter anderem mit der Psychologie von Trugschlüssen auseinandergesetzt. Smith konstatierte, dass die Menschen zur Selbstüberschätzung neigen und eine ausgeprägte Gegenwartspräferenz haben. Sie ziehen es vor, lieber weniger sofort zu haben als mehr in der Zukunft – lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Derlei psychologische Überlegungen wurden allerdings durch die neoklassische Lehre fast 200 Jahre lang vollkommen verdrängt. Erst die Spieltheorie konnte aufzeigen, dass gängige Strategien von Marktteilnehmern zu suboptimalen Ergebnissen führen. Damit rückte die irrationale Seite des menschlichen Handelns wieder in den Fokus der Ökonomen. Mit der Verhaltensökonomie entstand eine neue Strömung, die im Laufe der Jahre eine Fülle von Beispielen zusammentrug, die deutlich machen, wie schnell wir auf unseren mikroökonomischen Entscheidungspfaden stolpern oder falsch abbiegen: Wir schätzen Wahrscheinlichkeiten falsch ein, gewichten Information, die unsere Hypothesen zu bestätigen scheinen, stärker als jene, die ihnen widersprechen und sind Opfer eines Herdentriebs, der uns verleitet, bei steigenden Kursen Aktien nur deshalb zu kaufen, weil alle anderen es ebenfalls tun. Die Verhaltensökonomie zeigt, dass unsere Rationalität in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt ist. Gerade bei der Verarbeitung ökonomischer Daten scheint unser Neokortex im Konflikt mit älteren Gehirnschichten besonders oft zu unterliegen. Dass wir das Geld erfunden haben garantiert noch nicht, dass wir auch richtig damit umgehen können.
Psychologie und Marktversagen
Die beiden israelischen Psychologen Amos Tversky (1937-1996) und Daniel Kahneman (1934-2024) beschrieben solche Phänomene 1979 erstmals systematisch im Rahmen ihrer „Neuen Erwartungstheorie“. (Kahneman erhielt 2002 hierfür den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.) Ein zentrales Element ihrer Betrachtungen ist das Phänomen der Verlustaversion. Eine Person, die 5 Euro geschenkt bekommt, ist glücklicher, als eine, die zunächst 10 Euro erhält, aber davon 5 Euro wieder abgeben muss.[vi] Ein Homo oeconomicus wäre beiden Fällen gegenüber vollkommen indifferent. In der Praxis führt die Verlustaversion unter anderem dazu, dass sich viele Anleger nicht rasch genug von fallenden Aktien trennen und dadurch noch größere Verluste erleiden.
Auch die Annahme, dass alle Marktteilnehmer über vollständige Information verfügen, ist fragwürdig. Tatsächlich ist die Realität von Informationsasymmetrien geprägt. Eine Seite hat einen Wissensvorsprung, der die Bildung freier Marktpreisgleichgewichte behindert. Der Nobelpreisträger George Akerlof – er erhielt den Preis ein Jahr vor Kahneman – zeigte die Konsequenzen am Beispiel des Gebrauchtwagenmarkts. Der Käufer eines Gebrauchtwagens weiß im Gegensatz zum Verkäufer nicht, ob ein Wagen technische Mängel hat. Dieses Risiko kalkuliert er in seinen Angebotspreis ein und macht ein entsprechend niedriges Angebot. Für die ehrlichen Verkäufer einwandfreier Fahrzeuge ist dieser Preis aber zu niedrig; sie ziehen sich deshalb vom Gebrauchtwagenmarkt zurück. Die Informationsasymmetrie führt somit zu einer Negativauslese: Weil sich auf dem Markt nur noch unredliche Händler tummeln, finden Verbraucher und ehrliche Anbieter nicht mehr zueinander.
Wie verteilt man den Kuchen?
Rationale Entscheider, vollkommener Wettbewerb, homogene Güter und vollständige Information führen nach neoklassischer Überzeugung alle Beteiligten in einen idealen Zustand, das so genannte Pareto-Optimum. Benannt ist es nach Vilfredo Pareto (1848-1923), einem italienischen Ingenieur und Soziologen. Handlungen sind Pareto-effizient, wenn durch ihr Ergebnis mindestens ein Akteur bessergestellt wird, ohne dass sich die Situation eines anderen Akteurs dadurch verschlechtert. Preisabsprachen, unehrliche Händler oder betrügerische Kunden schaden daher der Pareto-Effizienz, weil eine Seite zwar gewinnt, die andere aber verliert.
Neben der Einsicht, dass Menschen faktisch irrational handeln und Märkte versagen können, gibt es noch eine weitere Kritik an der neoklassischen Wirtschaftstheorie: Ideale Wettbewerbsmärkte führen zwar theoretisch zu einem bestmöglichen Zustand. Ob dieser aber gerecht ist, ist eine ganz andere Frage. Pareto-Effizienz herrscht auch dann, wenn ein Einzelner einen ganzen Kuchen allein vertilgt. Der Egoist hat sich dadurch bessergestellt, aber ansonsten niemandem geschadet. Pareto selbst hatte sich eingehend mit diesem Problem beschäftigt. Für seine umfangreichen statistischen Recherchen konsultierte er Steuerbücher der Städte Basel und Augsburg aus dem 15. Jahrhundert, zeitgenössische Aufzeichnungen über Mieteinnahmen in Paris und Einkommenstabellen aus Großbritannien, Sachsen und Peru. Das 1909 veröffentlichte Ergebnis war über alle Epochen und Länder hinweg ebenso eindeutig wie ernüchternd: Seit Beginn der Aufzeichnungen bis zu Gegenwart ist der Reichtum in allen untersuchten Gesellschaften extrem ungleich verteilt. Im Durchschnitt gehören den reichsten 20% der Bevölkerung rund 80% aller Vermögen. Die übrigen 80% teilen sich die verbliebenen 20%. Pareto erschien diese Ungleichverteilung wie ein „soziales Gesetz“, etwas, das ganz offenbar in der „Natur des Menschen“ liegt.[vii] Der alte Widerspruch von Freiheit und Gleichheit war nun erstmals quantifiziert: Ideale, effiziente Wettbewerbsmärkte insgesamt viel Wohlstand hervorbringen – Verteilungsgerechtigkeit können sie jedoch nicht sicherstellen. Das neoklassische Wirtschaftsethos, genährt aus dem Individualismus der Aufklärung, barg sozialen Sprengstoff.
Wer mehr wissen will:
Gossen, Hermann Heinrich (1854): „Die Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln.“, Vieweg.
Marshall, Alfred (2013): „Principles of Economics”, Palgrave.
Kahneman, Daniel (2011): „Schnelles Denken, langsames Denken“, Siedler.
Akerlof, George / Shiller, Robert (2010): „Animal Spirits“, Princeton University Press.
Bildnachweise:
[i] Gossen (1854) S.1.
[ii] Gossen (1854) S.1.
[iii] Die Bestimmung des Gewinnmaximums ist für die meisten Unternehmen wesentlich komplexer als die Nutzenmaximierung der Haushalte, da Teile der Kosten, etwa Mieten, fix, andere Kostenteile wie Materialverbrauch hingegen variabel sind. Die Grenzkosten ergeben sich dann aus der Ableitung der Gesamtkostenfunktion.
[iv] Vgl. Marshall (2013) S.290.
[v] Die Preiselastizität der Nachfrage darf nicht mit der Steigung der Nachfragekurve verwechselt werden. Die Steigung einer linearen Nachfragekurve ist an allen Stellen gleich; Elastizitäten können hingegen durch den sich laufend ändernden Grenznutzen an jeder Stelle der Kurve unterschiedlich ausfallen.
[vi] Vgl. Kahneman (2011) S.447-452.
[vii] Vgl. Mandelbrot (2007) S. 153 f.