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Schicksalhafte Erbträger: Eine kurze Geschichte der Genetik

Aktualisiert: vor 3 Tagen


Ein neugieriger Augustinermönch

Am 8. Februar 1865, keine sechs Jahre nach der Veröffentlichung der „Entstehung der Arten“ brütete der österreichische Augustinermönch Gregor Mendel über den letzten Feinheiten des Vortrags, den er am Abend vor den Mitgliedern des Naturforschenden Vereins von Brünn halten würde. Noch waren die Beete im Klostergarten vom Schnee bedeckt. Doch in einigen Monaten würden hier seine Hülsenfrüchte wieder Spalier stehen. Über viele Jahre hatte er alles genau beobachtet und akribisch für über 10.000 gemeine Gartenerbsen aufgezeichnet, wie sich deren Merkmale von Generation zu Generation veränderten. Dabei war ihm etwas aufgefallen: Erbsen, bei denen der eine Elternteil und dessen Vorfahren jeweils nur rote und der andere jeweils nur weiße Blütenblätter aufwiesen, hatten stets rote Blüten. Kreuzte man die Nachkommen aber untereinander, zeigte sich, dass in 25% aller Fälle die nächste Generation weiße Blütenblätter aufwies. Ganz offenbar wurden die Merkmale nach einem genau definierten Muster vererbt. Ausprägungen, die sich in der nächsten Generation gegenüber denen des anderen Elternteils durchsetzen, bezeichnete Mendel als „dominant“, die unterlegenen als „rezessiv“.[i]


Fotografie aus dem 19. Jahrhundert  Leicht gewelltes Haar, glattrasiert und mit Nickelbrille
Hielt sich gerne in seinem Garten auf: Gregor Mendel

Weder Mendels Vortrag noch seine Veröffentlichung erzeugten irgendein unmittelbares Echo. Der Augustinermönch war seiner Zeit wohl zu sehr voraus, um beachtet zu werden. Niemand hatte verstanden, dass er soeben jene Wissenschaft begründet hatte, die einst das Rätsel um Darwins Variabilität lösen sollte. Anfang des 20. Jahrhunderts gelang dann dem Amerikaner Walter Sutton und dem Deutschen Theodor Boveri der nächste Erkenntnisschritt. Die beiden stellten – einmal mehr – unabhängig voneinander eine Theorie auf, mit der sich die Mechanik der Mendelschen Regeln erklären ließ. Sie besagt, dass eine als Chromosomen bezeichnete Substanz im Zellkern der Träger der vererbten Merkmale ist. 1953 schließlich publizierten der Amerikaner James D. Watson und der Brite Francis Crick einen kurzen Aufsatz über die „Molekulare Struktur von Nukleinsäuren“. Er schloss mit der Bemerkung: „Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die speziellen Paarungen […] unmittelbar auf einen möglichen Vervielfältigungsmechanismus für die genetische Erbsubstanz schließen lassen.“[ii] 1962, fast hundert Jahre nach Mendels Entdeckung, erhielten die beiden Molekularbiologen den Nobelpreis für Medizin. Watson und Crick hatten mit einem erstaunlich einfachen Modell Mendels Regeln, die Chromosomentheorie der Vererbung und die Evolutionslehre auf eine molekulare Grundlage gestellt. Sie hatten die Maschinerie entdeckt, mit der Information von einer Generation auf die nächste übertragen wird.[iii] 

 

Foto aus den 1960ern : lachend mit schütterem, wirrem Haar
James D. Watson
Foto aus den 1960er Jahren.  Ein seriös wirkender Herr mit weißem Haar
Francis Crick

Wie das Leben Informationen kodiert

Träger dieses Wissens ist ein Molekül, das von seiner Erscheinung her an eine verdrehte Strickleiter erinnert, eine doppelte Helix mit Holmen aus Zucker- und Phosphorsäurebausteinen und Sprossen aus den vier Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Die Desoxyribonukleinsäure, kurz DNS, ist das größte Molekül, das wir im Universum kennen, eine molekulare Festplatte, die unvorstellbar viel Information enthält.

So wie bestimmte Buchstabenkombinationen Wörter bilden und dadurch eine Bedeutung erhalten, stellen auch bestimmte Sequenzen der Basen Mitteilungen dar. Das Schriftmolekül erzählt mit nur vier Lettern A, T, G und C den Roman des Lebens. Die Sätze dieses Romans bezeichnen wir als Gene. Chemisch gesehen sind Gene nichts weiter als bestimmte Abschnitte des DNS-Moleküls, die Anweisungen für die Herstellung von Proteinen geben.[iv] Kohlenhydrate und Lipide geben dem Leben Struktur und Energie – Proteine geben ihm seine Individualität: Das Pigment Melanin bestimmt beispielsweise Haut-, Haar- Fell- und Augenfarbe bei Mensch und Tier. Je nachdem, welche Menge Melanin in der Iris eingelagert wird, erscheint das Auge als blau, grün oder braun. Aktin und Myosin bilden Muskelmasse und bestimmen so ebenfalls das äußere Erscheinungsbild; Hormone wie Oxytocin oder Testosteron haben einen maßgeblichen Einfluss auf unser Verhalten.


Die Rolle der DNS gleicht der eines mittelalterlichen Kathedralenbaumeisters: In jedem Stein steckt die Möglichkeit, zu einem beliebigen Element der Kathedrale zu werden. Der Baumeister kennt als einziger den gesamten Plan. Nach seinen Anweisungen entstehen aus rohen Bruchsteinen glatte Mauerstücke, Elemente eines Pfeilers, der Schlussstein eines Torbogens oder die Fratze eines Wasserspeiers. Jeder Stein hat eine bestimmte Funktion – zusammen formen sie ein atemberaubendes Ganzes.


Genauso stellt das Informationsmolekül sicher, dass aus einer einzigen Zelle durch immer neue Teilungsprozesse Wurzeln, Blätter, Blüten, Haare, Herzmuskelgewebe oder Nervenstränge entstehen. Ein ausdifferenzierter Organismus besteht aus Billionen von Zellen mit hunderten von spezialisierten Zelltypen. Doch wie bewerkstelligen die Gene diese Aufgabe? Wie stellen sie sicher, dass Haut-, Haar- und Regenbogenhautzellen Melanin produzieren, Herzmuskelzellen hingegen Aktin und Myosin? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas ausgreifen.

 

Wie entstehen Organismen?

Zunächst gilt es zu verstehen, wie ein Organismus wächst. Bei Lebensformen mit sexueller Vermehrungsstrategie (es gibt auch Strategien, die ohne Sex funktionieren) steht am Anfang eine befruchtete Eizelle, eine Zygote. Sie enthält den vollständigen, von Vater und Mutter ererbten Bauplan. Durch Zellteilung differenziert sie sich zu einem neuen Individuum aus. Bevor sich die Zygote zum ersten Mal teilt, muss sie sicherstellen, dass jede Tochterzelle eine vollständige Kopie ihres Bauplans erhält. Jeder Stein muss gleichsam das Wissen um die gesamte Kathedrale in sich tragen. Nur so kann sich der wachsende Organismus alle Differenzierungsmöglichkeiten offenhalten.


Das Kopieren des Bauplans, die Replikation, ist eine hochkomplexe biochemische Prozesskette, die durch eine Vielzahl von Enzymen gesteuert wird. Die Enzyme entwinden zunächst die verdrehte Struktur der Doppelhelix und trennen die schwachen Bindungen der Basenpaare. Da sich jede Base nur mit genau einem komplementären Partner verbinden kann – Adenin immer nur mit Thymin, und Guanin immer nur mit Cytosin – enthält jeder der beiden getrennten Stränge immer noch die vollständige und eindeutige Information.

Der Replikationsprozess mit den vier Basen
Der Replikationsprozess der DNS-Doppelhelix

Im nächsten Schritt wird die jeweils fehlende Hälfte unter tatkräftiger Mitwirkung von Enzymen Stück für Stück wieder mit den komplementären Bausteinen ergänzt; die Zelle hat sie zuvor eigens zu diesem Zweck hergestellt: Adenin wird mit einem Thymin-Baustein verbunden, Guanin mit einem Cytosin-Partner und umgekehrt. Dadurch entstehen aus einem alten zwei neue DNS-Stränge, die jeweils zur Hälfte aus dem aufgetrennten Mutterstrang und dem neu gebildeten Tochterstrang zusammengesetzt sind. Zum Abschluss führt der Zellkern eine aufwändige Qualitätskontrolle durch, bei der ein weiteres Enzym die Basenfolge noch einmal abliest und mögliche Kopierfehler korrigiert.


Die DNS ist im Zellkern in Päckchen aufgeteilt, eben jene von Boveri und Sutton beschriebene Chromosomen. Nach dem Verdopplungsprozess besteht jedes Chromosom aus zwei genetisch identischen Chromatiden, die in der Mitte, dem Centromer, miteinander verbunden sind. Die Anzahl der Chromosomen ist artspezifisch, es gibt keinen Zusammenhang mit der Komplexität der jeweiligen Lebensform: Menschen haben 23 Chromosomen, Kartoffeln und Schimpansen jeweils 24, Krabben hingegen 127. Da Zygoten aus der Verschmelzung zweier Geschlechtszellen hervorgehen, enthalten sie jedes Chromosom zweimal – beim Menschen also 46 Chromosomen, die je zur Hälfte von Mutter und Vater stammen.

Schematisierte Zeichnung einer Zelle mit zwei Chromatiden
Chromosom mit zwei Chromatiden kurz vor der Zellteilung

Nachdem sich die Chromosomen verdoppelt haben, wird die Mitose, die Zellteilung, eingeleitet. Der Zellkern löst sich auf und die freigelassenen Chromosomen wandern zur Zellmitte. An den beiden Polen der Zelle bilden sich fangarmartige Spindelapparate, die jeweils eines der beiden Schwesterchromatiden auf ihre Seite ziehen. Nach der Trennung werden die Chromatiden mit einer neuen Zellkernmembran umgeben, danach teilt sich die Zelle in zwei Tochterzellen: bei Pflanzen geschieht dies durch die Errichtung einer neuen Zellwand; bei tierischen Zellen durch Einschnüren mit Hilfe von Aktin-Myosin-Fasern. Jede der neu entstandenen Tochterzellen enthält nun einen einfachen Chromosomensatz, der mit dem der Schwesterzelle völlig identisch ist. Nach einer Wachstumsphase und einer weiteren DNS-Replikation wird die nächste Zellteilung eingeleitet – ein exponentieller Wachstumsprozess, der sicherstellt, dass jeder Abkömmling den ursprünglichen Bauplan vollständig in sich trägt.

 

So entstehen die verschiedenen Zelltypen

Woher aber weiß die einzelne Zelle, welchen Teil des Erbes sie antreten darf? Diese Nachlassverwaltung übernimmt die Genexpression mit ihren beiden Prozessen Genregulation und Proteinbiosynthese. Sie sorgt dafür, dass sich in dem wachsenden Organismus nach und nach unterschiedliche Gewebe und Organe ausprägen. Die Genregulation gewährleistet mithilfe chemischer Aktivatoren, dass nur jene Rezepte abgerufen werden, die der jeweilige Zelltyp für seine Aufgabe auch benötigt: Muskelzellen sollen hauptsächlich Aktin und Myosin herstellen, Haarzellen Melanin. Nicht benötigte Rezepte werden durch Repressoren blockiert. Daneben gibt es etliche Gene, die im Normalfall nie zum Zug kommen; sie sind das Erbe der Vorfahren, das in der aktuellen Umwelt seine Bedeutung verloren hat und daher durch Selektionsmechanismen abgeschaltet wurde – so verfügen wir Menschen etwa immer noch passiv über die Anleitung für die Herstellung von Affenfell und Affenschwanz.


Die Proteinbiosynthese, die Herstellung der zelltypspezifischen Eiweiße, beruht auf einem einfachen Prinzip: Proteine sind letztlich nichts anderes als lange Ketten von Aminosäure-Bausteinen, wobei die konkreten Eigenschaften des jeweiligen Eiweiß durch die Reihenfolge der Säuren bestimmt wird. Eine bestimmte Sequenz lässt Myosin entstehen, eine andere Aktin, eine weitere Melanin. Im menschlichen Genom sind rund 20.000 solcher Eiweiß-Rezepte hinterlegt – weniger übrigens als bei Fadenwürmern, Wasserflöhen oder zahlreichen Unkräutern. Es kommt also nicht auf die Anzahl der Gene an, sondern auf das, was der Organismus aus ihnen macht.

Graphische Darstellung des Prozesses
Proteinherstellung durch Translation

Die Proteinbiosynthese besteht aus zwei verschiedenen Prozessen, die als „Transkription“ und „Translation“ bezeichnet werden, als „Abschrift“ und „Übersetzung“. Die Transkription ähnelt in mancher Hinsicht der Replikation: Ein Enzym trennt die DNS in zwei Stränge. Allerdings dient diesmal nur einer der beiden Stränge als Kopiervorlage und es werden immer nur einzelne Gene kopiert. Des Weiteren kommt eine etwas andere Chemie zum Einsatz: Statt Desoxyribose wird der Zucker Ribose verwendet, statt Thymin die Base Uracil. Das Ergebnis des Transkriptionsprozesses ist das Nachrichtenmolekül „m-RNS“. Das kleine „m“ steht dabei für Englisch „messenger“, das „R“ für den Ribose-Baustein. Aufgabe der m-RNS ist es, die Botschaften der DNS an die Ribosomen zu übermitteln.[v]

An den Ribosomen vollzieht sich der zweite Teil der Proteinbiosynthese, die Translation, bei der der eigentliche Produktionsauftrag abgearbeitet wird. Insgesamt 22 verschiedene Aminosäuren können als Rohstoffe bei der Proteinherstellung zum Einsatz kommen. Jede Säure wird durch eine Reihenfolge von nur drei Basen exakt definiert. Beispielsweise codiert das Basentriplet AUG (Adenin, Uracil, Guanin) für die Aminosäure „Methionin“.[vi] Bei der Produktion hilft eine zweite RNS, die t-RNS (das t steht dabei für Translation). Wie das Abschrift-Molekül wurde auch das Übersetzer-Molekül zuvor von der Zelle hergestellt. Aus den Abbauprodukten des Eiweiß-Stoffwechsels sucht die t-RNS die von der m-RNS festgelegten Aminosäuren heraus und verbindet sie zu Peptidketten, die sich zu Melanin, Aktin, Myosin, Melatonin, Elastin, Kollagen und tausenden weiteren Proteinen zusammenfügen. So wie der Steinmetz die Anweisungen des Kathedralenbaumeisters umsetzt, materialisiert die Proteinbiosynthese die Informationen des Zellkerns, um verschiedene Zelltypen auszuprägen: Die DNS ist das Wissen; die Proteine sind das Handeln.

 

Der Einfluss der Eltern 

Bisher haben wir nur betrachtet, wie Organismen wachsen und sich dabei ausdifferenzieren. Damit sind allerdings weder Darwins Variabilität noch Mendels Vererbungsregeln erklärt. Wie kann es beispielsweise sein, dass Eltern mit braunen Augen ein Kind mit blauen Augen haben können, blauäugige Eltern aber kein Kind mit braunen Augen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir noch einmal zur Ursprungszelle des neuen Organismus zurückgehen. Die Zygote ist die Verschmelzung einer weiblichen mit einer männlichen Geschlechtszelle. Wie alle anderen Zelltypen sind auch Spermien und Eizellen aus der Mitose entstanden und haben somit den zweifachen, von Mutter und Vater ererbten Chromosomensatz. Dies aber führt zu einem offenbaren Problem: Da bei einer Befruchtung die beiden Keimzellen miteinander verschmelzen, würde sich mit jeder neuen Generation die Anzahl der Chromosomen verdoppeln. Wie bei den Reiskörnern auf dem Schachbrett, wäre das Fassungsvermögen der Zelle für ihre Erbträger nach wenigen Generationen gesprengt.


Geschlechtszellen haben daher einen eigenen Zellteilungsprozess, die Meiose. Der wichtigste Unterschied zur Mitose ist ein vorgelagerter zusätzlicher Schritt, die Reduktionsteilung, bei dem der doppelte Chromosomensatz halbiert wird – im Falle des Menschen also von 46 auf 23 Chromosomen. Ein doppelter Chromosomensatz bedeutet, dass jedes Gen einmal in einer von der Mutter und einmal in einer von dem Vater ererbten Ausprägung vorliegt. Doppelte Gene, die für das gleiche Protein codieren, werden als homolog bezeichnet. Es kann nun sein, dass der DNS-Abschnitt, der die Augenfarbe bestimmt, beim väterlichen Chromosom die Anweisung enthält, nur wenig Melanin herzustellen – das ergibt blaue Augen. Falls das homologe mütterliche Gen diesbezüglich aktiver ist, werden die Augen braun.

 

Der Zufall spielt immer mit

Welches der beiden Gene zum Zuge kommt, wird bereits im ersten Schritt der Meiose entschieden: Die homologen Chromosomen ordnen sich in der Zellmitte an, wobei es vollkommen dem Zufall überlassen ist, auf welcher Seite des Zelläquators sich die mütterlichen und väterlichen Chromosomen jeweils wiederfinden. In dieser Lotterie bekommt der Zufall sogleich noch eine weitere Chance: Während der Anordnungsphase können sich die homologen Chromosomen berühren und dabei beim sogenannten „Crossing over“ untereinander Chromatidenabschnitte austauschen. Nach dieser Rekombination sind die Gene nun, wie für ein Kartenspiel, gründlich gemischt. Die Spindelapparate teilen die Chromosomen gleichmäßig auf die beiden Zellhälften auf, sodann teilt sich die Zelle.

schematische Darstellung des Teilungsprozesses
Die zwei Teilschritte der Meiose: Das graue Chromosom repräsentiert die väterliche Seite (blaue Augen), das schwarze die mütterliche (braune Augen)

Der zweite Meiose-Schritt verläuft nun im Wesentlichen analog der Mitose. Die Chromosomen werden nochmals in ihre beiden Chromatiden getrennt, anschließend teilt sich die Zelle ein weiteres Mal. In zwei Schritten sind so aus einer Zelle mit doppeltem Chromosomensatz vier Keimzellen mit jeweils nur einem Chromatid entstanden. Auf väterlicher Seite werden alle vier Keimzellen zu Spermien, während sich mütterlicherseits nur eine der vier Keimzellen zu einer Eizelle ausbildet. Mit dem Verschmelzen von Spermium und Eizelle, entsteht wieder eine Körperzelle mit doppeltem Chromosomensatz.


Während die Mitose also alles daran setzt, die Originaltreue der Kopiervorlage zu bewahren, ist die Meiose darauf angelegt, jede Keimzelle mit einer neuen, einzigartigen Variante des genetischen Materials auszustatten.[vii] Der Rekombinationsmechanismus ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Neues in die Welt zu setzen. Zu Darwins Variabilität trägt ebenfalls bei, dass es trotz aller Sorgfalt auch bei der DNS-Replikation zu Fehlern kommen kann. Umweltfaktoren, wie elektromagnetische Strahlen, können zu winzigen, dauerhaften Veränderungen des Bauplans führen. Diese Mutationen haben zur Folge, dass die DNS nun für ein anderes Protein mit anderen Eigenschaften codiert oder dass sich die Genregulation nichtcodierender DNS-Abschnitte verändert. Während die Rekombination also lediglich vorhandene Karten neu mischt, bringt die Mutation durch „biochemische Unfälle“ neue Karten ins Spiel. Ob sich die durch die beiden Evolutionsmotoren Rekombination und Mutation erzeugten Veränderungen bewähren, entscheidet allein die Selektion.[viii] 

Fotos aller Schattierungen von hellblau bis dunkelbraun
Farbabstufungen des Auges

Die Genetik der mendelschen Regeln

Bis jetzt haben wir aber noch immer nicht geklärt, wie die molekularen Vervielfältigungsprozesse mit den Mendelschen Regeln zusammenhängen. Betrachten wir dazu noch einmal das Gen, das für die Augenfarbe codiert: In der Zygote findet sich eine vom Vater ererbte DNS-Sequenz für blaue Augen und eine von der Mutter stammende Kodierung für braune Augen. Die Augenfarbe des Kindes hängt von der genauen Gen-Variante, dem Allel, ab. Gene bestimmen lediglich das „was“ – also etwa die Augenfarbe als solche. Allele hingegen legen das „wie“ fest, die konkrete Ausprägung – bei der Augenfarbe also blau, grün oder braun. Unter den Allelen herrscht Rivalität, es gibt eine festgelegte Hackordnung: Die Variante braun („stelle viel Melanin her“) ist „dominant“; die unterlegene Variante blau („stelle wenig oder kein Melanin her“) ist „rezessiv“. Im direkten Kräftemessen sticht immer das dominante Allel. Ererbt das Kind also ein braunes und ein blaues Allel, so wird es stets braune Augen haben. Pflanzt sich dieser Nachfahr seinerseits mit einem Partner fort, der ebenfalls Träger eines braunen und eines blauen Allels ist, werden nach den Gesetzen der Kombinatorik im Durchschnitt 75% aller Nachfahren braune Augen haben – nämlich die Kombinationen braun-braun, braun-blau, blau-braun. In 25% der Fälle aber, wenn zwei blaue Allele aufeinandertreffen, sind die Augen blau.

schematische Darstellung der Erbgänge anhand von roten und weißen Blüten
Die von Mendel gefundene Uniformitäts- und Spaltungsregel

Allerdings sind die Zusammenhänge oftmals nicht ganz so einfach. Die Mendelschen Regeln gelten nämlich nur unter sehr speziellen Voraussetzungen, nämlich bei sexueller Vermehrung mit dominant-rezessivem Erbgang, bei dem nur ein einziges Gen das Merkmal festlegt. Diese drei Bedingungen sind kumulativ in der Natur aber nur selten erfüllt: Es gibt, wie erwähnt, zahlreiche Lebensformen, die sich nicht sexuell fortpflanzen, darunter sämtliche Einzeller. Bestimmte sexuelle Erbgänge, kennen kein dominant-rezessiv-Schema, sondern erzeugen, wie die intermediäre Vererbung, Mischformen. Blumen, deren Eltern rote und weiße Blüten haben, weisen dann eine rosa Farbe auf. Insbesondere aber ist die Merkmalsbestimmung durch ein einziges Gen in der Natur eher die Ausnahme: Das Erscheinungsbild, der Phänotyp, ergibt sich zumeist aus einem undurchsichtigen Zusammenspiel verschiedener Erbträger.[ix] 

 

Lesen können heißt nicht verstehen

Da die Vererbung keinen einfachen deterministischen Zusammenhängen folgt, haben sich auch nicht die großen Hoffnungen erfüllt, die man um die Jahrtausendwende in das internationale Humangenomprojekt gesetzt hatte. Zwar gelang es, sämtliche menschliche Erbträger zu sequenzieren, doch es war so, als ob man ein Buch in einer fremden Sprache gelesen hätte. Das Buchstabieren von Zeichenfolgen garantiert eben noch nicht, dass sich dadurch auch ein Sinn erschließt. Das Projekt machte deutlich, dass wir bis heute die komplexen Wechselwirkungen der Genexpression noch kaum verstehen. Doch es lieferte auch einige wichtige Erkenntnisse. Insbesondere zeigte es die verblüffende Universalität des Gencodes: Kaum eine Art verfügt über eigene, exklusive Gene. Das Genom, das alle Menschen miteinander teilen, ist zu 99,9% identisch; aber auch bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, beträgt der gemeinsame Genpool immer noch fast 99%. Zwar kommen rund 7% aller Proteinfamilien nur in Wirbeltieren vor, doch die große Mehrzahl der menschlichen Erbanlagen findet sich auch bei Flusskrebsen, Fruchtfliegen, Steinpilzen und Broccoli. Die Genetik liefert heute die stärksten Argumente für die Richtigkeit der Evolutionstheorie. Erneut zeigt sich hier auch der Konservativismus der biologischen Entwicklung: Anstatt neue Bausteine zu schaffen, zieht sie es vor, seit Jahrmilliarden bewährten Elemente ständig neu zu kombinieren.

 

Der Mensch kann den Verlauf der Evolution steuern

Das Wissen um die Allgemeingültigkeit des Gencodes hat konkreten praktischen Nutzen. Wurde vor einigen Jahren noch das für die Behandlung von Diabetes notwendige Insulin aufwändig aus den Bauchspeicheldrüsen von Schweinen extrahiert, stellen heute in Bakterien und Hefepilze verpflanzte menschliche Gene das Hormon zuverlässig in großen Mengen her. Es ist denkbar, dass solche artenübergreifende horizontale Gentransfers eines Tages die Erschaffung von Zwitterwesen ermöglichen, wie wir sie bisher nur aus der Mythologie kennen.[xi] Die Manipulation des Gencodes ist nichts grundsätzlich Neues – sie gibt es, seit der Mensch Pflanzen und Tiere mittels Zuchtwahl domestiziert. Doch die Möglichkeiten des technischen Gentransfers werden diese Entwicklung noch einmal exponentiell beschleunigen. Die Fähigkeit, Geschwindigkeit und Richtung der biologischen Evolution gezielt beeinflussen zu können ist heute zweifelsohne eine der weitreichendsten Folgen der kulturellen Evolution des Menschen.

 

Das egoistische Gen

Folgen wir der Theorie der Evolutionsbiologen George C. Williams, Edward O. Wilson und Richard Dawkins unterliegen wir hier allerdings einer Illusion: Nicht wir nutzen Gene zu unseren Zwecken, sondern die Gene benutzen uns! Nicht Arten oder einzelne Individuen kämpfen um ihr Dasein, sondern die Gene selbst. Da sie sich ohne Unterlass replizieren sind die Molekülketten potentiell unsterblich. Die biologischen Arten sind letztlich nur Replikationsplattformen deren sich „egoistische Gene“ skrupellos bedienen. In dieser Perspektivenumkehr sind sämtliche Spezies letztlich reine, roboterhaft fremdgesteuerte Erfüllungsgehilfen der DNS, Experimentalformen, die selbstsüchtige Gene in einem ewigen Kampf ums Überleben gegeneinander antreten lassen.[xii] 


Foto des graumelierten Wissenschaftlers aus dem Jahr 2010
Propagiert die Selbstsucht der Erbträger: Richard Dawkins

Die Theorie vom „egoistischen Gen“ ist freilich umstritten. Unstrittig ist hingegen, dass Gene nicht nur unser Aussehen bestimmen, sondern auch erheblichen Einfluss auf unser Verhalten und unsere Persönlichkeit haben. Denn unser Handeln wird zu einem maßgeblichen Teil durch Hormone bestimmt. Welche Mengen von welchen Botenstoffen hergestellt werden und wie gut unsere Rezeptoren sie verarbeiten können, ist in unseren Erbanlagen festgeschrieben: Ein hoher Spiegel des Hormons Serotonin lässt uns als vertrauensvolle, gelassene und risikobereite Frohnaturen durchs Leben gehen; ein Mangel macht uns zu misstrauischen Griesgramen. Welcher Anteil unserer Persönlichkeit genetisch bedingt und welcher auf Erfahrungen unseres neuronalen Netzwerks zurückzuführen ist, ist umstritten – manche Wissenschaftler bringen selbst politische Einstellungen mit unserer DNS in Verbindung. Spielen die Gene tatsächlich die Rolle, die wir früher den Sternen zugeschrieben haben, bestimmen sie unser Schicksal?

 

Die Umwelt hat ein Mitspracherecht

Die noch relativ junge genetische Teildisziplin Epigenetik lässt die Dinge in einem weniger dramatischen Licht erscheinen. Tatsächlich hat sich seit der Jahrtausendwende mehr und mehr gezeigt, dass die Gene auch mit der Umwelt im Dialog stehen. Faktoren, wie Temperatur, Ernährung oder Stress können Aktivatoren und Repressoren beeinflussen und verschaffen sich so ein direktes Mitspracherecht bei der Verwirklichung unseres genetischen Potentials. Das Schicksal einer Bienenlarve wird nicht nur durch ihre Erbanlagen, sondern auch durch ihre Ernährung bestimmt: Wird sie mit Gelée Royale gefüttert, wird aus ihr eine Königin – andernfalls landet sie in der riesigen Heerschar der Arbeiterinnen; bei Krokodilen und Schildkröten entscheidet die Umgebungstemperatur, ob aus einem Ei ein männliches oder ein weibliches Tier schlüpft; menschliche eineiige Zwillinge, bei ihrer Geburt nicht zu unterscheiden, entwickeln sich mit zunehmendem Alter zusehends auseinander; trotz identischer Genausstattung erkrankt ein Zwilling an Diabetes, der andere nicht.

 

Unser Schicksal liegt nicht (nur) in den Genen

Die Beispiele zeigen, dass wir keine starre mathematische Funktion unseres Erbguts sind. Unser Genom ist keine Schablone, aus der sich unser Schicksal von vornherein ablesen ließe. Epigenetische Programme bestimmen gewissermaßen als Software, die auf unserer genetischen Plattform läuft, welche passiven DNS-Sequenzen in einer bestimmten Situation aktiviert werden. Die bisher verblüffendste Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist, dass diese umweltinduzierten Expressionen sogar vererbt werden können. Lamarck , der für seine These von der Weitergabe erworbener Eigenschaften viel Spott einstecken musste, ist durch die aktuelle Genforschung ein Stück weit rehabilitiert.


Wir kommen zwar nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt, aber auf dem Blatt gibt es noch viel Platz, die Geschichte in ganz unterschiedliche Richtungen fortzuschreiben. Unsere Gene sind ein Drehbuch, das durch verschiedene Regisseure unterschiedlich interpretiert werden kann. Was wir essen, wo und wie wir leben, kann bei der Umsetzung der Geschichte eine entscheidende Rolle spielen. Dass dabei unser eigener Lebenswandel – etwa der Konsum von Drogen – auch eine Bestimmungsgröße für das Leben künftiger Nachfahren sein kann, ist eine Bürde, die dem Wort „Erbsünde“ eine ganz neue Bedeutung verleiht.

 

 

 

Wer mehr wissen will:

Mendel, Gregor (1865): „Versuche über Pflanzen-Hybriden. In: Verhandlungen des naturforschenden Vereines in Brünn. Band IV S. 3–47

Watson, James / Crick, Francis (1953): „Molecular Structure of Nucleic Acids”, Nature 171.

Dawkins, Richard (1996): „Das egoistische Gen“, Rowohlt.

 

Bildnachweise:

 

Anmerkungen

[i] Die beiden Regeln werden heute als Uniformitäts- und Spaltungsregel bezeichnet. Die dritte von Mendel gefundene Regel, die Unabhängigkeitsregel, bezieht sich auf die Kombination von zwei Merkmalen, die unabhängig voneinander vererbt werden, etwa Blütenfarbe (rot oder weiß) und Samenform (lang oder rund). Wenn lange Samen gegenüber runden dominant sind, ergibt sich bei reinerbigen Großeltern in der zweiten Generation eine zu erwartende Aufteilung von 9 Nachkommen mit roten Blüten und langen Samen, 3 Nachkommen mit roten Blüten und runden Samen, 3 Nachkommen mit weißen Blüten und langen Samen, sowie einem Abkömmling mit weißen Blüten und runden Samen.

[ii] Watson / Crick (1953).

[iii] Vgl. Kandel (2006) S.404.

[iv] Gene machen nur rund 10% der DNS aus. Abschnitte, die keine Bauanweisungen für Proteine darstellen, wurden vor einiger Zeit noch als „Junk-DNS“ bezeichnet. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass diese vermeintlichen Müll-Abschnitte zahlreiche wichtige Funktionen haben. Insbesondere steuern sie die Genexpression, auf die wir noch eingehen werden.

[v] 2020 wurde im Zusammenhang mit der Weltweiten COVID-19-Pandemie erstmals ein auf m-RNA basierender Impfstoff zugelassen. Dabei wird nicht das Antigen selbst verabreicht, sondern nur die benötigte Anweisung, dieses in den Körperzellen selbst herzustellen. 

[vi] Methionin ist immer der Startschuss für einen neuen Produktionsauftrag; an ihm erkennt das Ribosom, dass ein neues Protein hergestellt werden soll.

[vii] Die Rekombinationen erklärt, warum Kinder uns meist als offenbare Mischung ihrer Eltern erscheinen. Die Zahl der Anordnungsmöglichkeiten ist allerdings gigantisch: Beim Menschen gibt es 223 = 8.388.608 Möglichkeiten, um eine einzelne Keimzelle genetisch zu bestimmen. Da eine Zygote aus zwei Keimzellen entsteht, gibt es 223 x 223 d.h. rund 70 Tausend Milliarden Möglichkeiten den Chromosomensatz des neuen Organismus festzulegen. Wir dürfen daher getrost davon ausgehen, dass wir alle – selbst ohne Crossing over – ziemlich einzigartig sind.

[viii] Bei Mutationen kommt es auf den richtigen Mix aus Replikationstreue und Veränderung an. Viren haben sehr hohe Mutationsraten. Damit unterlaufen sie die Fähigkeit des von ihnen befallenen Organismus, sie mithilfe des Immunsystems abzuwehren. Bei Säugetieren hingegen sind die Mutationsraten sehr klein; rasche Veränderungen würden das komplexe Zusammenspiel der hochspezialisierten Organverbände sofort zusammenbrechen lassen.

[ix] So sind bei der Augenfarbe tatsächlich mindestens drei Gene im Spiel. Die noch recht junge Disziplin der Genomik, versucht unter anderem mit stochastisch-quantitativen Methoden solche Zusammenhänge aufzudecken und zu bestimmten, welchen Beitrag ein bestimmtes Gen etwa zur Festlegung der Augenfarbe leistet. Vgl. Tautz (2019). 

[xi] In Großbritannien ist die Züchtung von Mensch-Tier-Chimären zu Forschungszwecken bereits seit 2008 gesetzlich gestattet.

[xii] Vgl. Dawkins (1996) S.68.


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