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AutorenbildJens Bott

Sieg des Chaos - Thermodynamik für Anfänger

Aktualisiert: 27. Dez. 2024


Mayer, Joule und von Helmholtz entdecken eines der wichtigsten physikalischen Gesetze

Die Entdeckungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten einige grundlegende Spielregeln der Energiewandlung offengelegt: Elektromotoren machten Strom zu Bewegung, Generatoren machten aus Bewegung Strom; Dampfmaschinen verwandelten Wärmeenergie in mechanische Arbeit und in Batterien gepackte Säuren ließen Elektrizität fließen. Da dieses Wissen für die beginnende Industrielle Revolution von großer praktischer Bedeutung war, begann man die zugrundeliegenden Prozesse systematisch zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass sich grundsätzlich jede Energieform unmittelbar in jede andere transformieren lässt, bis auf eine Ausnahme: Es war nicht möglich, Wärme direkt in Strom zu verwandeln. Ganz offenbar spielte Wärme unter allen Energieformen eine Sonderrolle.


Foto von Robert Mayer mit Kinnbart und Nickelbrille
Robert Mayer. Geboren und gestorben in Heilbronn

In den 1840er Jahren stießen zwei Forscher bei ihren Betrachtungen der Energiewandlung auf eines der grundlegendsten Naturgesetze überhaupt. Fast zeitgleich und unabhängig voneinander, erkannten der deutsche Arzt Robert Mayer und der englische Brauereibesitzer James Prescott Joule die Unsterblichkeit der Energie: Sie lässt sich weder vernichten noch erzeugen. Energie ist einfach nur da. Sooft man sie auch wandelt, ihr Gesamtbetrag bleibt stets gleich. 1847 formulierte Hermann von Helmholtz diese Einsicht in ihrer allgemeinen Form: Die Summe aller Energieformen bleibt in einem geschlossenen System konstant.

 

Schwerzweiss-Foto von Joule  -  stattlicher Mann mit imposantem Vollbart
James Prescott Joule. Aus irgendeinem Grunde heißt die Einheit für Energie heute nicht Mayer.



Thermodynamik als neue Disziplin

Mit dieser Erkenntnis hatten Mayer, Joule und von Helmholtz ein neues physikalisches Spezialgebiet begründet, die Thermodynamik, die Lehre von den Gesetzen der Energiewandlung, und zugleich deren ersten Hauptsatz definiert. Wie Geld im Wirtschaftskreislauf ist Energie eine Verrechnungseinheit, mit der sich Beziehungen zwischen physikalischen Objekten quantifizieren lassen. Energie arbeitet ohne Unterlass; sie springt von einem Körper zum nächsten, verändert dessen Zustand und stört damit sein Gleichgewicht. Der von ihr „angefallene“ Körper möchte die Energie so schnell wie möglich wieder loswerden, um seinen ursprünglichen Zustand wiederzufinden. Die Energie zieht weiter und wechselt dabei immer wieder ihre Erscheinungsform. Was das eine Teilsystem verliert, wird durch ein anderes aufgenommen.


Fotoa von von Helmholtz; weiße Haare , weißer Oberlippenbart
Aldous Huxley setzte ihm in "Schöne neue Welt" ein Denkmal: Hermann von Helmholtz

Stellen wir uns von Helmholtz‘ geschlossenes System als ein hermetisch abgeschottetes Zimmer vor, in dem sich ein Billardspiel und ein Mensch befinden. Der Mensch stößt eine Billardkugel vom Tisch, hebt die zu Boden gefallene Kugel wieder auf und legt sie an die ursprüngliche Stelle zurück. Was ist aus thermodynamischer Sicht geschehen? Der Fall hat die Lageenergie der Kugel verringert. Dem Verlust an Lageenergie steht ein Gewinn an kinetischer Energie gegenüber, der beim Fallen entsteht. Die Arbeit, die der Mensch verrichtet, um die Kugel aufzuheben und ihr die ursprüngliche Lageenergie wiederzugeben, entspricht wiederum der kinetischen Energie, die zuvor durch den Fall erzeugt wurde.



 

Die Sonderrolle der Wärme

Bei all dem ist kein einziges Joule verloren gegangen. Sehen wir aber genau hin, ist die Summe der Lageenergieveränderungen und der Bewegungsenergien nicht exakt gleich. Auf ihrer Reise stößt die bewegte Kugel nämlich in jedem Augenblick gegen Aberbillionen Luftatome und versetzt sie in Aufruhr. Auch an der Stelle, an der die Kugel aufschlägt, werden die Atome durch den Impuls in Schwingungen versetzt. Luft und Umgebung des Aufschlagspunkts sind jetzt etwas wärmer als zuvor. Der Wandlungsvorgang hat als weitere Energieform auch Wärme erzeugt. Dasselbe geschieht auch bei allen anderen Energietransformationen: Elektromotor, Generator, Dampfmaschine oder Stoffwechsel erzeugen alle, gleichsam als Hintergrundrauschen, unvermeidbar das Nebenprodukt Wärmeenergie. Dabei steigt mit jeder weiteren Umwandlung der Wärmeanteil an der Gesamt-Energiebilanz weiter an.


Einfache Zeichnung der Faradayschen Scheibe
Der erste Generator: Die Faradaysche Scheibe verwandelt kinetische Energie in Elektrizität

Wärme bedeutet letztlich, dass sich Atome und Moleküle schneller bewegen, dadurch auch öfter zusammenstoßen und die Richtung wechseln. Das führt mit der Zeit dazu, dass sich die Teilchen im Raum gleichmäßig verteilen. Diese Gleichverteilung möchte man auf den ersten Blick für eine Ordnung halten. Tatsächlich ist sie aber das genaue Gegenteil davon, denn in der Natur stellen nur ungleich verteilte Strukturen eine Ordnung dar. Geordnete Strukturen enthalten Information, das heißt, sie können innerhalb des betrachteten Systems einen Unterschied vermitteln. Die Gleichverteilung aber ist unterschiedslos; sie enthält damit auch keine Information. Geordnete Strukturen lassen sich nur mit Energieformen aufbauen, denen man eine Richtung geben kann. Genau diese Eigenschaft aber fehlt der Wärme. Sie breitet sich gleichzeitig in alle Richtungen aus und führt das System in einen gesichtslosen Zustand.

 

Ein Naturgesetz, das nicht deterministisch ist

Rein theoretisch wäre es denkbar, dass sich alle Teilchen unter Wärmeeinfluss zufällig in die gleiche Richtung bewegen. Praktisch aber ist dies ausgeschlossen: Ein Liter Luft enthält ungefähr 2,5 x10^22 Moleküle. Eine räumliche Gleichverteilung ist dort, wo keine ordnende Kraft wirkt, einfach die wahrscheinlichste aller Anordnungsmöglichkeiten – so wie beim Würfeln am ehesten eine Gleichverteilung entsteht. Könnten wir uns nicht auf das Gesetz der großen Zahlen verlassen, bestünde die Gefahr, dass uns rein zufällig die Luft ausgeht, wenn wir in der falschen Ecke des Raumes stehen. Geordnete Strukturen wie Galaxien, Gebirge oder Gänseblümchen befinden sich einfach in einem viel unwahrscheinlicheren Zustand, als der Rest des Universums.


verwirbelte rot-gelbe Flammen vor schwarzem Hintergrund
Im Universum nimmt das Chaos ständig zu

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt daher, dass die Gesamtmenge an Unordnung in einem geschlossenen System mit der Zeit stets zunimmt und geordnete Strukturen über kurz oder lang immer nur zerfallen. Diese unumkehrbarere Entwicklung, die ein physikalisches System von der Ordnung zur Unordnung führt, wird als Entropie bezeichnet.[i] Es handelt sich nicht um ein deterministisches Naturgesetz, sondern um ein rein stochastisches Phänomen. Im zweiten Hauptsatz stecken drei für das Weltverständnis sehr grundlegende Dinge. Erstens gibt es im Universum eine allgemeine Tendenz zum Informationsverlust: Eine heiße Tasse Kaffee ist eine geordnete Struktur. Sie stellt eine Information dar, weil hier Energie an einem Ort in konzentrierter Form vorliegt. Mit der Zeit aber gibt die Tasse Wärme ab, bis sich Tassen- und Umgebungstemperatur einander angeglichen haben. Dies geschieht nur, weil es wahrscheinlicher ist, dass der Kaffee den Raum erwärmt als der Raum den Kaffee.[ii] Mit der Angleichung an die Raumtemperatur geht Information verloren; Entropie misst das Ausmaß dieses Verlusts. In seinem letzten Stadium, dem Chaos, enthält das System keine Botschaften mehr. 

 

Unsere Erde – ein offenes System

Doch wie entstehen dann überhaupt geordnete Strukturen? Diese Frage führt uns zur zweiten Implikation des zweiten Hauptsatzes. Ordnung – und damit auch Information – setzt äußeren Zwang voraus. Man muss dem System externe, geordnete Energie zuführen, um die Anzahl willkürlicher Anordnungsmöglichkeiten zu reduzieren. Die dabei unterstellten geschlossenen Systeme sind bei alledem nur ein Gedankenexperiment; in der Realität kann es sie allein schon deshalb nicht geben, weil überall im Universum die grenzenlose, nicht abschirmbare Gravitation wirkt.


Ein Foto der blauen Erde aus dem Weltraum aufgenommen
Die Erde: ein offenes thermodynamisches System

Auch unser Heimatplanet ist ein offenes System; er kann nur deshalb komplexe Strukturen hervorbringen, weil ihm von außen Energie zugeführt wird. Wenn wir uns fragen, was den Menschen im Billardzimmer befähigt, die Kugel aufzuheben, stoßen wir auf eine interessante Kausalitätenkette: Unser Körper kann chemische Energie in kinetische Arbeit verwandeln; dies setzt wiederum voraus, dass wir zuvor Nahrung aufnehmen; handelt es sich dabei um tierische Nahrung, konnte das Tier dem Menschen seinerseits nur deshalb als Energiequelle dienen, weil es zuvor vielleicht Gras gefressen hat, um seine eigenen Strukturen aufzubauen; das Gras wiederum konnte nur wachsen, weil ihm das Sonnenlicht den Photosyntheseprozess ermöglichte. Menschen, Tiere und Pflanzen stellen Ordnung dar, weil sie ihre Moleküle durch aktive Energiezufuhr daran hindern, sich anderweitig anzuordnen. Am Anfang all dieser Strukturiertheit steht die Sonne. Letztlich ist es die von ihr abgestrahlte Energie, die es dem Menschen im Billardzimmer ermöglicht, sich gegen die Entropie zu stemmen und die Kugel aufzuheben. Um diese lokale Ordnung herzustellen, muss sich die Entropie an anderer Stelle vergrößern. Insgesamt nimmt das System Erde Sonnenenergie mit niedriger Entropie auf und strahlt sie mit höherer Entropie wieder ab. Von dieser Chaosdifferenz lebt unser Planet.[iii]

 

Das Wesen der Zeit

Die dritte Implikation des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes erklärt uns nicht weniger als das Wesen der Zeit. Der Marsch eines geschlossenen Systems in die Entropie ist unumkehrbar. Unumkehrbarkeit aber ist in der Physik etwas Besonderes, da sich ihre Vorgänge grundsätzlich allesamt umdrehen lassen: Filmt man die Schwingungen eines Pendels, so stellt sich der Vorgang, wenn man den Film rückwärts ablaufen lässt, exakt gleich dar. Die Chancen, dass die Luft den Kaffee in der Tasse wieder erwärmt oder dass sich die zerbrochene Kaffeetasse zufällig wieder von allein zusammenfügt, stehen hingegen ausgesprochen schlecht.[iv] Das, was zwischen zwei Ereignissen vergeht, nennen wir Zeit. Einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt es nur, weil dazwischen Ereignisse liegen, die sich nicht mehr umkehren lassen und allein deshalb kennt die Zeit nur eine Richtung. Die Dinge der Welt sind vergänglich, weil es wenige Möglichkeiten gibt, einen Zustand zu erhalten, aber viele, ihn zu zerstören. Darum ist das Gestern verloren und nur deshalb wissen wir über die Gegenwart mehr als über die Zukunft. Die einzige Zeit, die wir tatsächlich kennen können, ist das auf einen Punkt zusammengezogene Hier-und-Jetzt. Im Philosophie-Blog haben wir gesehen, dass der Philosoph Augustinus von Hippo, ganz ohne Thermodynamik, bereits im 5. Jahrhundert zu derselben Erkenntnis kam.


Frühneuzeitlicher Stich einer wunderssamen Maschine mit Zahnrädern und Kugeln. Um die Maschine stehen vier Gelehrte
Das Perpetuum mobile ist eine Maschine, die den Energieerhaltungssatz gerne Lügen strafen würde...bis heute ohne Erfolg...

 Sieg des Chaos

Eine einzige künftige Gewissheit allerdings bleibt: Das Universum wird gnadenlos der völligen Gesichts- und Geschichtslosigkeit zustreben. Denn der Kosmos ist ein geschlossenes System; seine kontinuierliche Expansion erweitert unablässig die Möglichkeiten der Unordnung. Die winzigen strukturierten Inseln, die gerichtete physikalische Kräfte in dem Tohuwabohu geschaffen haben, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entropie in jedem Augenblick in einem unvorstellbar größeren Ausmaß zunimmt als alle Ordnung. Alles strebt zur Gleichförmigkeit bis, wie von Helmholtz es formulierte, endlich „vollständiger Stillstand aller Naturprocesse von jeder nur möglichen Art“ eintritt.[v] Mit diesem Stillstand wird auch die Zeit zu ihrem Ende kommen. Ein deprimierender Gedanke.

 

 

Wer mehr wissen will:

Helmholtz, Hermann von (1854): „Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittlungen der Physik“, Vortrag.

 

Bildnachweise:

 

Anmerkungen:


[i] Der Entropiebegriff wird häufig missverstanden; er hat beispielsweise nichts mit einem Garten zu tun, in dem sich das Unkraut ausbreitet. Tatsächlich verringern die Pflanzen als geordnete Strukturen die Entropie.

[ii] Eine alternative Formulierung des zweiten Satzes der Thermodynamik lautet daher: „Wärme geht nicht von allein von einem kälteren Körper auf einen wärmeren Körper über“.

[iii] Neben der Sonnenenergie geht ein kleiner Teil der verfügbaren Energie auf unserem Planeten auch auf Erdwärme und die Gravitationskraft des Mondes zurück.

[iv] Die Unumkehrbarkeit erklärt auch, warum Zeitreisen in die Vergangenheit unmöglich sind: Der heutige Zustand der Welt erklärt sich aus einer Kette unzähliger Dinge, die geschehen sind (oder durch noch mehr Dinge, die nicht geschehen sind). Für eine Zeitreise in die Vergangenheit müsste man in der Lage sein, das gesamte Universum in einen Zustand zu versetzten, der einmal zu einem früheren Zeitpunkt geherrscht hat. Dies bedeutet aber auch, dass man sämtliche Erlebnisse und Erfahrungen, die man seit diesem Moment gemacht hat, wieder verlieren müsste – andernfalls wäre es möglich, den Lauf der Geschichte rückwirkend zu beeinflussen. Letzteres würde zu nicht aufzulösenden Widersprüchen führen – etwa, wenn man den Vater vor der eigenen Zeugung umbringen würde. Wenn man eine solche Zeitreise unternähme, würde man also gar nichts davon merken. Wäre es möglich seine eigene Erfahrung in die Vergangenheit zu transportieren, würde man die eigene Existenz vernichten.

[v] Helmholtz (1854) S. 25. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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