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Sinn, Verstand und letzte Gründe: Die Philosophie der Neuzeit bis Kant

Autorenbild: Jens BottJens Bott

Sinn, Verstand und letzte Gründe

Für Europa war die Zeit um 1500 eine Epoche gewaltiger Veränderungen. Neben der Philosophie hatten auch Kunst, Architektur und Literatur die Antike wiederentdeckt. Neues Wissen musste nun nicht mehr rein theologisch, sondern zunehmend auch wieder logisch-rational oder empirisch gerechtfertigt werden. Der Kirche entglitt damit nach und nach ihr Monopol für Wahrheitsvermittlung und das Individuum rückte zunehmend in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Eine wesentliche Rolle bei dieser Entwicklung spielte ein Augustinermönch und Professor der Theologie zu Wittenberg, der ab 1517 von sich reden machte. Martin Luther war mit den Lehren des Aristoteles und eines Wilhelm von Ockham vertraut; am stärksten prägte ihn jedoch die Zwei-Reiche-Lehre seines Ordenspatrons Augustinus. Luther gelangte zu der Überzeugung, dass Erlösung und ewiges Leben nicht durch gute Taten oder priesterliche Absolution erlangt werden können, sondern allein durch aufrichtigen persönlichen Glauben und Reue für begangene Sünden. Damit erhob er den einzelnen Menschen zur höchsten irdischen Instanz; ein Perspektivenwechsel, der den weiteren Verlauf der Weltgeschichte maßgeblich beeinflussen sollte.


Während sich die neue Konfession innerhalb kurzer Zeit über fast ganz Nordeuropa ausbreitete, sollten noch mehr als 100 Jahre vergehen, bis es auch in der Philosophie zu einem vergleichbaren Aufbruch kam. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind die Philosophen auf der Suche nach Letztbegründungen; das Wissen über die Welt soll von einem sicheren methodischen Fundament aus neu erarbeitet werden. Doch um diese Grundlage tobt ein heftiger Streit. Die mehr in der Tradition Platons stehenden Rationalisten sind überzeugt, dass wir nur über unseren Intellekt zu wahrer Erkenntnis gelangen können. Für die eher aristotelischem Denken folgenden Empiristen hingegen ist der menschliche Sinnesapparat, sind schmecken, fühlen, riechen, hören und sehen, das wahre Fenster zur Welt.[i] 


Ein Portrait von Frans Hals aus dem Jahre 1649 : lange, dunkle Haare, gewitzt-skeptischer Blick, Schnurrbart
Drückte den philosophischen Reset-Knopf: der Franzose René Descartes

Descartes verordnet der Philosophie einen radikalen Neustart

Der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) bezieht in dieser Auseinandersetzung eine radikal rationalistische Position; sie wird ihn zum Begründer der neuzeitlichen Philosophie machen. Descartes unterwirft sich dazu selbst einem konsequenten methodischen Zweifel: Meine Sinne können mich täuschen, die Welt um mich herum, aber auch Gott, können reine Einbildung oder ein Traum sein. In seinen „Meditationes de prima philosophia“ reißt Descartes Schritt für Schritt das Gebäude unserer vermeintlichen Gewissheiten ein. Ganz unten findet sich eine einzige sichere Erkenntnis, nämlich die, dass ich als denkendes Wesen existiere. Selbst wenn ich mich in allem täusche, so existieren doch wenigstens meine Gedanken – auch, wenn diese falsch sein sollten. Das ist das berühmte „cogito ergo sum“.[ii] Von dieser Ausgangsposition möchte Descartes nun schrittweise seine Erkenntnisse denkend zurückgewinnen.

Dieses individualistische Ur-Axiom der Erkenntnistheorie war der wichtigste Fortschritt seit fast 2.000 Jahren, ein fulminanter

Neustart der Philosophie: Wissen ist im Denken verankert, dennoch darf nichts, was ich denken kann, als gegeben hingenommen werden – alles muss auf den Prüfstand. Die Gewissheit zu sein, gründet nicht mehr in Gott, sondern im Denken jedes einzelnen Menschen. Die von Descartes begründete Tradition des methodischen Skeptizismus und radikalen Rationalismus wurde in den Niederlanden durch den jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632-1677) weitergeführt, in Deutschland insbesondere durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716).

 

Stattlicher und selbstischer wirkender  Mann mit langer, dunkler Allongeperücke
Leibniz - ein überaus vielseitiger Denker

Die Briten denken anders

Auf den Britischen Inseln entwickelte sich das Denken hingegen hauptsächlich in der empirischen Tradition von Bacon und Ockham. Als Begründer des modernen Empirismus gilt ein Nachfahre von Roger Bacon: Francis Bacon (1561-1626) war überzeugt, dass der Mensch die Natur nur beherrschen könne, wenn er ihre Gesetze versteht und seine diesbezüglichen Annahmen immer und immer wieder überprüft. Am deutlichsten formulierte später John Locke (1632-1704) das empiristische Credo: „Unser Beobachten, entweder der äußern wahrnehmbaren Dinge oder der innern Vorgänge in unserer Seele ist es, was den Verstand mit dem Stoff zum Denken versieht.“[iii] 


Portrait von John Locke, ein hagerer älterer Mann, einfach gekleidet; lange weiße Haare
John Locke

Gegen Descartes skeptische Grundhaltung sei, so Locke, grundsätzlich nichts einzuwenden, doch Quell aller Erkenntnis sind Erfahrung und unmittelbare Anschauung, nicht das reine Denken: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“. Dieses Zitat Lockes kontert Leibniz mit der Bemerkung: „Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, außer dem Verstand selbst.“[iv]

 

Die Aufklärung dynamisiert das Denken

Dieser erkenntnistheoretische Methodenstreit sollte sich als überaus fruchtbar für die Entwicklung der modernen Wissenschaften erweisen. Die Idee, dass grundsätzlich alles verstehbar ist und nicht nur göttliche Offenbarung, sondern auch Verstand und sinnliche Anschauung Erkenntnisquellen sein können, läutete Mitte des 17. Jahrhunderts das Zeitalter der Aufklärung ein, eine neue Sicht auf die Welt, die bis heute den Kern wissenschaftlichen Denkens ausmacht. Der statische antike-mittelalterliche Kosmos wich einer dynamischen Vorstellung, in der der Leitstern der Vernunft der Menschheit den Weg zu Fortschritt und einer besseren Zukunft bereits im Diesseits weisen sollte.


Das neue Denken führte zur Entdeckung zahlreicher Naturgesetze, die den technischen Fortschritt rasant beflügelten, aber auch zur Entstehung eines aufstrebenden Bürgertums, das für sich nun mehr Rechte forderte und die Privilegien adeliger und kirchlicher Autoritäten infrage stellte. Die Aufklärung war, wie Immanuel Kant es später formulieren würde, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“[v] 

Diese Aufbruchsstimmung machte das 18. Jahrhundert zu einem goldenen Zeitalter der Philosophie. Individualismus und die aus ihm resultierende Säkularisierung, die Saat von Luther und Descartes, begann nun zu keimen. Die beiden auffälligsten Sterne am aufgeklärten Philosophenhimmel waren David Hume und Immanuel Kant (letzterem werden wir den nächsten Artikel der Philosophie-Blogs widmen). Hume, der von 1711 bis 1776 lebte, ist der wichtigste Vertreter des britischen Empirismus. So, wie es dem Engländer Newton gelang, die Physik in wenige einfache Formeln zu packen, möchte der Schotte Hume auf Basis einer kleinen Zahl gesicherter Grundlagen eine erkenntnistheoretisch fundierte „Menschenwissenschaft“ erschaffen.

 

Gibt es Kausalitäten?

Hume widmet sich zunächst dem Informationsverarbeitungsprozess. Erkenntnis entsteht allein, indem Gedanken mit Wahrnehmungen gefüttert werden. Nur sie können das neue erkenntnistheoretische Fundament sein – keinesfalls aber die rein spekulative Metaphysik, die sich jeder empirischen Überprüfung entzieht. Ereignisse, die räumlich und zeitlich eng beieinanderliegen, nehmen wir als kausale Ursache-Wirkungsbeziehungen wahr. Dabei liegt der Zusammenhang allerdings keinesfalls in den Dingen selbst; vielmehr neigen wir dazu, die Kausalitäten aufgrund unserer Erfahrungen in die Dinge hineinzuprojizieren.[vi] Wir sehen in diesen Verbindungen Naturgesetze, ohne wirklich wissen zu können, ob der unterstellte ursächliche Zusammenhang auch tatsächlich besteht. Diese radikale Kausalitätskritik ist als Induktionsproblem in die Philosophiegeschichte eingegangen. Die von Aristoteles beschriebene Methode, vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen, ist für Hume überaus problematisch. Wenn 99 Gläser, die zu Boden fallen, allesamt zerspringen, bedeutet das nicht, dass auch das hundertste Glas zerbrechen muss. Nicht einmal darauf, dass morgen die Sonne aufgehen wird, können wir uns absolut verlassen. Da sich Kausalitäten selbst jeder Observation entziehen, können wir uns der wahren Natur eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs nie sicher sein. Es ist allein die Gewohnheit, die uns an ihn glauben lässt; letztlich aber bleibt er eine nicht beweisbare Vermutung. Ein absolutes wissenschaftliches Fundament, lässt sich jedenfalls nicht darauf gründen.

Seine Überlegungen legte Hume in dem 600 Seiten starken „A Treatise of Human Nature“ dar, dem „Traktat über die menschliche Natur“, das der 28-Jährige nach zehnjähriger Arbeit vollendete. Doch sein Versuch einer systematischen Analyse des menschlichen Erkenntnisapparats fand keinerlei Beachtung. Erst, als er elf Jahre später unter dem Titel „An Enquiry concerning Human Understanding“ eine grundlegend überarbeitete Version veröffentlichte, stellte sich der Erfolg ein.


Portrait aus dem 17. Jh. Lange, schwarze Haare, längliches, glattrasiertes Gesicht, olivenfarbene Haut
Wichtiger früher Religionskritiker: Baruch de Spinoza

Humes Religionskritik

Humes radikale Ablehnung der Metaphysik machte ihn zu einem frühen Religionskritiker. Bereits Spinoza hatte sich in einer 1670 veröffentlichten Schrift mit den offenbaren Widersprüchen biblischer Texte auseinandergesetzt. Spinoza hatte die Unstimmigkeiten damit erklärt, dass die Bibel Menschenwerk sei, und nicht das Wort Gottes. Überhaupt erführe man über Gott selbst in der Bibel wenig, dafür aber umso mehr über Verhaltensregeln. Religion aber sei keine Voraussetzung für sittliches Verhalten.

Hume ging in seiner Kritik noch wesentlich weiter. Er stand im Verdacht, Atheist zu sein, was ihn letztlich die Berufung zum Professor für Ethik an der Universität Edinburgh kosten sollte. Seine Abrechnung mit der Theologie ist radikal: Weder Gottes Existenz noch seine Güte oder Wunder könne in irgendeiner Form empirisch bewiesen werden. Auch mache die Religion aus den Gläubigen keine guten Menschen. Ganz im Gegenteil: Da sie auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen, vergessen sie, bereits im Diesseits hierzu etwas beizutragen. Am Ende ist alle Religion eine Selbsttäuschung, die auf der Illusion aufbaut, der Mensch könne Gott gnädig stimmen und so Einfluss auf sein Schicksal nehmen.

 

Portrait von Hume in warmen, dunklen Rot-Tönen gehalten; er trägt eine rote, orientalisch anmutende  Kopfbedeckung
Einer der wirkmächtigsten Philosophen des 18. Jahrhunderts: der Schotte David Hume

Ein Beitrag zur Ethik

Der bekannteste Beitrag des schottischen Philosophen zur Ethik ist heute als „Humes Gesetz“ bekannt: In ethischen Debatten darf grundsätzlich nicht vom „Sein“ auf das „Sollen“ geschlossen werden, da es sich dabei um zwei verschiedene Kategorien handelt. Anders gesagt: Aus Fakten ergeben sich keine Normen. Wenn es Gott gibt, bedeutet das nicht, dass man sich auch an seine Gebote halten muss. Genauso wenig lässt sich aus der Tatsache, dass Diebstahl bestraft wird, zweifelsfrei ableiten, dass Diebstahl schlecht ist.

 

 

Wer mehr wissen will:

Descartes, René (1641) : „Meditationes de prima philosophia“. Michael Soly,

Locke, John (2006) „Ein Versuch über den menschlichen Verstand“, Meiner.

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996): „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“, Meiner.

Hume, David (1739) „A Treatise of Human Nature“, Project Gutenberg-DE.

Hume, David (1748) „An Enquiry concerning Human Understanding”, Project Gutenberg-DE.

 

Anmerkungen:


[i] Es wäre eine unzulässige Verkürzung, Platon als Rationalisten und Aristoteles als Empiristen zu bezeichnen. Aristotles‘ Logik ist eine rein auf dem Verstand ruhende Betrachtung. Rationalismus und Empirismus eint zudem die skeptische, vom Individuum ausgehende Suche nach Letztbegründungen, die in der Antike keine Entsprechung hat.  

[ii] „Ich denke, also bin ich“. Den Ausdruck als solchen verwendet Descartes erst in einer späteren Schrift, dem 1637 veröffentlichtem „Discours“. Der Gedanke findet sich bereits bei Augustinus. Im „Gottesstaat“ schreibt er: „Selbst wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen.“ 

[iii] Locke (2006) 2. Buch, 1. Kapitel §2. 

[iv] Leibniz (1996).

[v] Kant (2009).

[vi] Eine Annahme, die durch die moderne Hirnforschung bestätigt wurde.

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