Die Fahrt der Beagle
Am 2. Oktober des Jahres 1836 ging die fünfjährige Weltreise des Vermessungsschiffs HMS Beagle in Falmouth, Cornwall zu Ende. Der junge Naturforscher, der an diesem Tag von Bord ging, würde später diese Reise als das bei weitem wichtigste Ereignis seines Lebens bezeichnen – trotz seiner dauernden Seekrankheit und trotz des schwierigen Charakters des Kapitäns, mit dem er sich während der ganzen Zeit die Kajüte geteilt hatte. Nun trugen die Seeleute seine zahlreichen Kisten an Land. Sie enthielten die Schätze, die er auf vier Kontinenten zusammengetragen hatte: Gesteinsproben, Fossilien, Schildkrötenpanzer, Felle, gepresste Pflanzen und seltsame Tiere in Spiritusgläsern – genug, um ein Dutzend Wunderkammern auszustatten. Dazu zahllose Skizzen und Notizbücher. Es würde Jahre dauern, bis er alles gesichtet, geordnet und katalogisiert haben würde.
Der Name des jungen Mannes war Charles Darwin. Seine Notizbücher sollten sich mit der Zeit als der wichtigste Schatz herausstellen. Sie quollen über vor außergewöhnlichen Beobachtungen und Gedankensplittern. Da waren etwa die Knochen eines unbekannten Huftiers – halb Kamel, halb Elefant – die er in Südamerika entdeckt hatte. Oder die Finken auf den abgelegenen Galapagosinseln im östlichen Pazifik. Vögel, so unscheinbar, dass Darwin sie zunächst fast übersehen hätte. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass ihre Schnäbel von Insel zu Insel auffällige Unterschiede aufwiesen. Wie ließen sich all diese Merkwürdigkeiten erklären?
Darwin brauchte 23 Jahre, um seine Gedanken zu ordnen und zu Papier zu bringen. Erst 1859 erschien sein Buch mit dem etwas umständlichen Titel „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf ums Dasein”. Es wurde über Nacht zu dem wohl einflussreichsten Werk der Wissenschaftsgeschichte.
Eine zentrale Welterklärungstheorie
Darwins revolutionärer Blick auf das Leben bildet heute neben Newtons Mechanik, der Relativitäts- und der Quantentheorie den vierten grundlegenden Pfeiler naturwissenschaftlicher Welterklärung. Wie Newton, Einstein und den Teilchenphysikern ist es auch Darwin gelungen, etwas zu erfassen, was sich zuvor jeder Beobachtung entzogen hatte. Keine okkulten Kräfte oder unvorstellbar große oder kleine Maßstäbe diesmal, sondern unbeschreiblich lange Zeiträume.
„Es ist, als ob man einen Mord gesteht“ schrieb Darwin bereits 1844 an einen Freund. Der ehemalige Theologiestudent hatte mit seiner Evolutionslehre nicht nur an einem kirchlichen Dogma gerührt, sondern auch das bisherige Menschenbild infrage gestellt. In der folgenden, heftig geführten gesellschaftlichen Debatte musste sich Thomas Huxley, einer der prominentesten Verteidiger der darwinschen Thesen, vom anglikanischen Bischof Samuel Wilberforce die spöttische Frage gefallen lassen, ob er denn großväterlicherseits oder großmütterlicherseits vom Affen abstamme.
Die Kreationisten in der Defensive
Unsere enge Verwandtschaft mit anderen Primaten mag uns heute offensichtlich erscheinen, doch noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die allgemeine Überzeugung die, dass alle Lebensformen das Ergebnis eines in der Genesis beschriebenen, erst wenige tausend Jahre zurückliegenden einmaligen Schöpfungsakts waren. Der englische Bischof James Ussher hatte dies 1650 anhand der Bibel sogar genau ausgerechnet: Der letzte Akt, die Erschaffung der Landtiere und des Menschen, vollzog sich am 23. Oktober 4004 v. Chr. – und zwar um neun Uhr morgens. Seitdem hat sich keine Lebensform mehr verändert. Dass der Artenvielfalt zwingend ein intelligenter Schöpfer zugrunde liegen muss, hatte zudem ein weiterer englischer Bischof, William Paley, im Jahre 1802 einleuchtend gerechtfertigt. In seiner Schrift „Natural Theology“ hatte er die Vorstellung von Gott als einem „Uhrmacher“ eingeführt: Von einer auf einem Feld gefundenen Uhr, so die Argumentation, würde niemand annehmen, dass sie zufällig entstanden sei. Daher müssen auch all die wunderbaren Lebewesen mit ihren perfekt aufeinander abgestimmten Funktionseinheiten das Ergebnis eines planvollen Aktes sein.
Dass dem Leben ein unintelligentes Design zugrunde liegen sollte, war nicht nur für englische Bischöfe eine Provokation: Die meisten Menschen haderten damals mit der Vorstellung, nicht mehr das krönende Werk eines Schöpfergotts zu sein. Zudem noch in verwandtschaftliche Nähe zu den Affen gerückt zu werden empfanden viele Zeitgenossen schlicht als Nestbeschmutzung.[i]
Missverständnisse
Umgekehrt gab es unter den Menschen, die die neue These mit Begeisterung aufnahmen, auch jene, die Darwin missverstanden oder missverstehen wollten: Zu verführerisch war die Idee, den „Kampf ums Dasein“ (ein Begriff, den später erst der englische Soziologe Herbert Spencer prägte) auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen. Aus dem „Überleben des am besten Angepassten“ wurde so schnell das „Recht des Stärkeren“. Kein Wissenschaftler ist so oft und so gründlich falsch interpretiert worden wie Darwin – ein Grund mehr, die tatsächlichen Aussagen seiner Theorie etwas genauer zu betrachten.
Die Indizien mehren sich
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich die Indizien gemehrt, die gegen das kreationistische Weltbild sprachen. Da waren die Fossilien ausgestorbener Arten (von der Kirche rasch zu Opfern der Sintflut erklärt) und die bemerkenswerten Unterschiede bei Flora und Fauna auf den verschiedenen Kontinenten. Anatomen waren frappierende Ähnlichkeiten im Bauprinzip verschiedener Lebewesen aufgefallen. So sind bei der Grabschaufel des Maulwurfs, dem Flügel der Fledermaus, der Flosse der Meeresschildkröte und der Hand des Menschen die Knochen in der gleichen relativen Lage zueinander angeordnet. Ende des 18. Jahrhunderts hatte zudem der Schotte James Hutton die moderne Geologie begründet. Wenn Flüsse, die pro Jahr höchstens einen Millimeter Gestein abtragen, kilometertiefe Schluchten schaffen konnten, musste die Erde älter als 6.000 Jahre sein.
Wenn eine langsame geologische Evolution vorstellbar war, warum nicht auch eine biologische? Der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck war der Erste, der 1809 eine solche Entwicklungstheorie vorschlug. Nach seiner Überzeugung war die Vielfalt der Arten sowohl das Ergebnis eines allen Lebewesen innewohnenden Vervollkommnungstriebs als auch das Resultat einer formenden Umweltkraft. Demnach haben Giraffen einen langen Hals, weil sie ihn bei der Futtersuche permanent strecken, um Blätter von den Bäumen fressen zu können. Die erworbenen Eigenschaften werden dann, so Lamarcks These, an die nächste Generation weitergegeben.
Der Kampf ums Dasein als Leitmotiv
All diese Fakten und Thesen kombinierte Darwin mit seinen eigenen Beobachtungen. Das Ergebnis war ein völlig neues Denkgebäude für die Biologie.[ii] Ausgangspunkt von Darwins Überlegungen war die Bevölkerungstheorie des Ökonomen Thomas Malthus, der zufolge sich die Menschen schneller vermehren, als für ihren Erhalt notwendig ist, während gleichzeitig die Nahrungsmittelproduktion mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten kann. Darwin übertrug diesen Gedanken auf die gesamte belebte Natur: Das Leben ist geprägt durch den immerwährenden Kampf aller Beteiligten um knappe Nahrungsressourcen. Das tägliche ATP ist keine Selbstverständlichkeit; es geht rau zu: Klima, Hunger und Fressfeinde erzeugen einen unerbittlichen Konkurrenzdruck. Dieser Wettbewerb ist das Leitmotiv der Evolutionstheorie.
Darwin hatte bemerkt, dass die Angehörigen einer Art, die einen bestimmten Lebensraum bewohnen, sich untereinander nicht völlig gleichen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich kleiner Details bei Aussehen und Verhalten, ein Phänomen, für das er den Begriff „Variabilität“ prägte. Der Lebensraum, in dem sich die Population aufhält, ist seinerseits durch eine bestimmte Kombination von Einflussfaktoren, wie Klima, Nahrungsangebot, Fressfeinde oder Populationsdichte gekennzeichnet, die die konkreten Lebensbedingungen der Individuen prägen.
Das Leben passt sich nicht an - es wird angepasst
Darwins Grundannahme war, dass die einzelnen Populationsmitglieder unterschiedlich gut mit ihrer Umgebung zurechtkommen. Wer aufgrund der natürlichen Variabilität über Eigenschaften verfügt, die zufällig im vorhandenen Lebensraum einen Vorteil darstellen, hat eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Darwin bezeichnete dieses Prinzip als das „Überleben des am besten Angepassten“ („survival of the fittest“). Mit dem statistischen Überlebensbonus erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass die vorteilhafte Disposition an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Der zu erwartende größere Fortpflanzungserfolg führt dazu, dass die besser angepassten Exemplare auf Dauer die weniger passend ausgestatteten Individuen verdrängen. Unpassende Eigenschaften und der damit verbundene statistische Malus führen über kurz oder lang zum Aussterben der Abweichler. Nicht angepasst zu sein, kommt einem Todesurteil auf Raten gleich. Den Auswahlmechanismus, der die am besten angepassten Individuen bevorzugt, bezeichnete Darwin als „natürliche Selektion“. Letztlich passen sich Arten nicht der Umwelt an – sie werden angepasst.
Wie funktioniert die natürliche Selektion?
Der Selektionsmechanismus stellt sicher, dass sich in einem gegebenen Lebensraum langfristig meist nur gut adaptierte Populationen finden. Eigenschaften und Umweltbedingungen passen zueinander. Sind die Umweltparameter stabil und ist die Art gut angepasst, besteht wenig Anlass für Veränderung. Die Umwelt wirkt dann als stabilisierender Faktor, da Abweichungen nur Nachteile brächten – der Grund, warum Quastenflosser und Haie heute nicht wesentlich anders aussehen als vor vielen Millionen Jahren. Ändert sich der Rahmen aber, sind die Folgen oftmals dramatisch, insbesondere, wenn der Wandel plötzlich erfolgt. Gegenüber drastischen Umgestaltungen ihres Lebensraums, etwa durch Naturkatastrophen oder raschen Klimawandel, sind viele Arten nicht besonders tolerant. Der Weg der Evolution ist daher mit unzähligen ausgestorbenen Spezies gepflastert.[iii] Eine Überlebensperspektive bietet dann wieder allein die Variabilität, sofern die neue Eigenschaft unter den veränderten Bedingungen einen Vorteil darstellt.
Der Selektionsmechanismus ist tatsächlich Bischof Paleys Uhrmacher. Ein Schöpfer, der allerdings nicht planvoll vorgeht, sondern blind und chaotisch zufällige Kombinationen schafft und sie in der Welt zur Bewährung aussetzt. Die Evolution muss nicht wissen, wie eine Maschine funktioniert, um eine Maschine zu bauen. Wir haben keine gegenüberliegenden Daumen, damit wir uns besser an Ästen festhalten können, sondern wir können uns besser an Ästen festhalten, weil die Daumen gegenüberliegen.
Der Ausleseprozess erfolgt über viele Generationen, so langsam, dass er die Illusion von Beständigkeit der Lebensformen erweckt und uns dazu verleitet, das Langsame mit dem Ewigen zu verwechseln. Alles, was dem Fortpflanzungserfolg nicht dienlich ist, wird früher oder später gnadenlos verworfen. Hat sich aber eine neue chemische Reaktionskette, ein Organell, ein Gewebeverbund oder ein Verhaltensmuster bewährt, wird es genauso konsequent beibehalten. Die Evolution ist ein sehr konservativer Mechanismus, der eine bewährte Errungenschaft nie abschafft, sondern allenfalls anpasst oder erweitert. Deshalb ist unserer Sauerstoffatmung noch immer der uralte anaerobe Energiegewinnungsprozess vorgeschaltet. Und nur so konnte sich über Milliarden Jahre hinweg aus einer lichtempfindlichen Zelle der optische Wunderapparat Auge entwickeln. Die Entwicklung strebt auch nicht nach einem Optimum oder einer Reißbrettlösung, sondern gibt sich mit dem zufrieden, was unter den gegebenen Umständen gut genug ist. Die ungeschickte Anordnung von Luftröhre und Speiseröhre ist ein Design, das mitunter tödliche Folgen haben kann und heutigen Industriestandards nicht gerecht wird. Für die Evolution aber hat sie sich als ausreichend erwiesen.[iv] François Jacob, ein französischer Medizin-Nobelpreisträger drückte es so aus: „Die Evolution ist ein Bastler, kein Ingenieur.“
Wie neue Arten entstehen
Die bisherigen Mechanismen erklären, warum manche Arten aussterben und andere überleben. Sie erklären nicht, wie neue Arten entstehen. Darwin erkannte, dass die entscheidende Rolle hierbei die Geographie spielt. Natürliche Barrieren können Populationen auseinanderreißen. Es kann sein, dass Vertreter einer Spezies sich auf eine abgelegene Insel verirren oder geologische Veränderungen evolutionäre Schlagbäume errichten, indem sie Landbrücken zerstören, Gebirge auftürmen, Wüsten bilden oder Flüsse in ein anderes Bett zwingen. Mit der neuen Umgebung verändert sich auch der Selektionsdruck: Ein anderes Klima, andere Nahrungsquellen, andere Fressfeinde. Der Anpassungsprozess der isolierten Population an die aktuellen Gegebenheiten führt nach und nach zu einer Entfernung von der Ursprungsform.
Genau das hatte Darwin auf den Galapagosinseln beobachtet. Die von ihm vorgefundenen 14 verschiedenen Finkenarten, mit ihren auffällig unterschiedlichen Schnabelformen, waren das Ergebnis einer Anpassung an das jeweilige lokale Futterangebot. Individuen, deren zufällig modifizierter Schnabel beim Knacken inselspezifischer Pflanzensamen einen kleinen Vorteil bot, hatten etwas bessere Chancen sich fortzupflanzen. Selbst wenn die Erfolgsaussichten nur minimal grösser waren, langfristig führten sie dazu, dass die weniger angepassten Formen verdrängt wurden.
Eine neue Art ist dann entstanden, wenn die Abweichungen so groß geworden sind, dass sich die jeweiligen Angehörigen gespaltener Populationen nicht mehr untereinander fortpflanzen können oder wollen. Pferde und Esel gehören deshalb verschiedenen Arten an; man kann sie zwar kreuzen, die hybriden Maulesel und Maultiere können jedoch selbst keine Nachkommen mehr zeugen. Löwen und Tiger hingegen können in Gefangenschaft zwar gemeinsame fortpflanzungsfähige Nachkommen haben, in der freien Wildbahn wurde allerdings ihre Paarung noch nie beobachtet. Daher gelten auch sie als unterschiedliche Arten.
Es ist nicht klar, was eine Art eigentlich ist
Arten sind Abstammungs- und Fortpflanzungsgemeinschaften. Doch der Begriff ist merkwürdig unscharf. Die Übergänge sind durch den graduellen Adaptationsprozess naturgemäß fließend. Darwin selbst verzweifelte fast an dem Versuch, Rankenfußkrebse zu klassifizieren und auch heute streiten sich die Biologen vielfach, ob nun tatsächlich zwei verschiedene Arten vorliegen oder nicht. Das Konzept der Arten scheint dem menschlichen Kategorisierungsbedürfnis näherzustehen, als der biologischen Realität.
Eine weitere wichtige Erkenntnis Darwins war, dass auch die von den Menschen seit Jahrtausenden praktizierte Tier- und Pflanzenzucht ein Selektionsmechanismus ist, lediglich mit dem Unterschied, dass diesmal menschliche Nutzenvorstellungen die natürlichen Selektionskriterien ersetzen. Individuen, deren Eigenschaften dem Züchter einen Vorteil versprechen – höherer Getreideertrag, dichtere Wolle oder überdurchschnittliche Milchleistung – werden bevorzugt und dürfen sich fortpflanzen. Durch die zielgerichteten Eingriffe läuft der Auswahlprozess wesentlich schneller ab. Wir müssen uns bei domestizierten Pflanzen und Nutztieren daher häufig anstrengen, um Ähnlichkeiten mit den ursprünglichen Wildformen zu finden: Chihuahua und Dänische Dogge sind beide Nachfahren des Wolfes – alle drei sind Angehörige derselben Art Canis lupus. Die beträchtlichen Unterschiede bei Aussehen und Charakter haben sich innerhalb weniger tausend Jahre herausgebildet – für evolutionäre Maßstäbe kaum mehr als ein Wimpernschlag. Tier- und Pflanzenzucht ist Evolution im Zeitraffer.
Die Geschichte des Lebens - eine Familiensaga
Wenn die evolutionären Kräfte von Anfang an wirksam waren – so eine weitere Überlegung Darwins – müssen sämtliche Arten auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Die Evolution ist demnach ein Baum mit einem Stamm und vielen lebenden und noch mehr abgestorbenen Ästen und Zweigen. Ganz gleich ob Kamel, Känguru, Kolibri, Karpfen, Kakerlake, Kapuzinerkresse oder Kolibakterium: Im Stammbaum findet sich früher oder später ein gemeinsamer Ahne. Die nächsten Verwandten des Menschen in diesem genealogischen Geäst sind die Affen, mit den Schimpansen als unseren direkten Cousins. Mit dieser Abstammungslehre ließen sich nun auch Merkwürdigkeiten der menschlichen Anatomie wie Steißbein, Blinddarm und spitze Eckzähne erklären: Sie sind Relikte einer gemeinsamen Deszendenz, Überbleibsel von Körperteilen, die durch eine veränderte Umgebung ihre ursprüngliche Funktion verloren haben.
Der große schwedische Naturforscher Carl von Linné hatte bereits im 18. Jahrhundert für tausende von Arten einen Klassifizierungsvorschlag vorgelegt. Aus Linnés Einteilung von Flora und Fauna in rund 30 verschiedene Klassen entstand mit der Zeit eine differenzierte Taxonomie mit Unterarten, Arten, Gattungen, Unterfamilien, Familien, Überfamilien, Ordnungen, Klassen, Unterstämmen, Stämmen und Reichen. [v] Tatsächlich erwiesen sich die Kriterien, die Linné und seine Jünger für ihre Systematisierungen herangezogen hatten, im Nachhinein vielfach als Ausdruck verwandtschaftlicher Beziehungen: Die Evolutionslehre hatte aus der Taxonomie eine große Familiensaga gemacht.
Unintelligentes Design
Obwohl sie immer komplexere Formen hervorbrachte, war Darwin überzeugt, dass die Evolution keinen Plan verfolgt. Sie hat weder Richtung noch Ziel und strebt daher auch nicht nach etwas „Höherem“. Und da es kein Ziel gibt, gibt es auch kein Ende. Alles ist im Fluss, der Wandel ist das Beständige; sämtliche Spielarten des Lebens sind nur Übergangsformen, vorläufige Ergebnisse eines unablässigen, zufälligen Experimentierens der Natur mit ihren Kreaturen. So führt eine direkte Linie von der Urzelle zum Homo sapiens – und auch dieser ist letztlich nur eines unter vielen aktuellen Versuchsmodellen.
Nichts in der Biologie ergibt Sinn...
„Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution.“ Dieser Satz bringt die Macht der Evolutionstheorie auf den Punkt. Darwins Lehre wirft Licht auf die grundlegenden Gesetze des Lebens: Die Evolution möchte, dass das Leben überlebt. Aus dieser Perspektive lassen sich Molekularbiologie, Zelllehre, Physiologie, Botanik, Zoologie, Genetik, Ökologie und Verhalten erklären. Die Phänomene der Biologie sind Werkzeuge und Strategien, mit denen das Leben versucht, den Selektionsmechanismen zu trotzen. Die Evolutionstheorie lehrt uns, woher wir kommen und wie wir zu dem wurden, was wir sind. In diesem Sinne ist die Biologie eine historische Wissenschaft; sie beschäftigt sich mit Kreaturen, die ihre eigene Vergangenheit gewissermaßen mit sich herumtragen.[vi]
So wie Newton das 17. Jahrhundert zum Zeitalter der Physik und Lavoisier das 18. Jahrhundert zum Zeitalter der Chemie machten, machte Darwin das 19. Jahrhundert zum Zeitalter der Biologie. Seine Bedeutung liegt darin, dass er als Erster wissenschaftlich erklären konnte, warum es uns gibt.[vii] Die fantastischen Geschöpfe der Evolution verleiten uns, in alldem rückwirkend einen Sinn zu suchen. Das ist ein sehr menschliches Bedürfnis. Doch diesen Sinn gibt es nicht. Dies war nach der kopernikanischen Wende die zweite große Kränkung, die unsere Selbstgewissheit hinnehmen musste: Der Mensch lebt weder im Zentrum des Universums, noch ist er die Krönung der Schöpfung. Er ist lediglich das zufällige Ergebnis eines natürlichen Ausleseprozesses.
Für ein entscheidendes Argument seiner Theorie hatte Darwin allerdings keine Erklärung: Wie entsteht unter den Individuen jene Variabilität, die über Wohl und Wehe ihrer Art entscheidet? Um diese Frage zu beantworten, werden wir in nächsten Biologie-Blog noch einmal in die mikroskopische Welt der Biomoleküle abtauchen.
Wer mehr wissen will:
Darwin, Charles (2008): „Die Entstehung der Arten“, Nikol.
Darwin Charles (1982) „Die Abstammung des Menschen“, Kröner.
Darwin, Charles (2016): „Die Fahrt der Beagle“, Theiss
Smith, John Maynard / Szathmáry, Eörs (1998): „The Major Transitions in Evolution”, Oxford University Press.
Smith, John Maynard / Szathmáry, Eörs (1999): „The Origins of Life. From the Birth of Life to the Origin of Language” Oxford University Press.
Dawkins, Richard (1996): „Das egoistische Gen“, Rowohlt.
Wuketits, Franz (2013) „Zum philosophischen Vermächtnis von Konrad Lorenz” in:
Erinnerungen an Konrad Lorenz. Zeitzeugen zu Werk und Mensch.
Rötger, Antonia (2001) „Die Evolution ist kein Naturgesetz“ in: Die Welt Online vom 28.05.2001.
Neffe, Jürgen (2017): „Darwin: Das Abenteuer des Lebens", Penguin.
Bildnachweise:
Anmerkungen:
[i] Eine Polemik, die bis heute anhält. Nach einer Umfrage des Gallup Instituts aus dem Jahre 2012 glauben nur 16% aller US-Amerikaner uneingeschränkt an die Richtigkeit der Evolutionstheorie, während 46% sich zum Kreationismus bekennen. Kreationisten sehen in der Artenvielfalt das Ergebnis eines willentlichen, intelligenten Designs durch einen Schöpfergott.
[ii] Der englische Naturforscher Alfred Russel Wallace war unabhängig von Darwin zu denselben Schlüssen gekommen; Darwin sah sich dadurch gezwungen seine eigene These sehr kurzfristig zu veröffentlichen.
[iii] Schätzungen zufolge sind über 99% aller Arten, die jemals die Erde bevölkerten, heute ausgestorben.
[iv] Vgl. Eörs Szathmáry in Rötger (2001).
[v] Die hier vorgestellte Hierarchie ist nur eine von mehreren Klassifizierungsmöglichkeiten. Die Taxonomie ist bis heute von einem großen Durcheinander und umfangreichen Lücken geprägt. So sind von den schätzungsweise auf der Erde lebenden neun Millionen Arten bisher nur rund 15% erfasst und klassifiziert worden.
[vi] Vgl. Wuketits (2013). S. 4.
[vii] Vgl. Dawkins (1996) S. 20.
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