Selbstmord als gesellschaftliches Phänomen
Die 1897 veröffentlichte Studie „Le suicide“ – „Der Selbstmord“ des französischen Soziologen Émile Durkheim (1858-1917) eröffnete bisher ungeahnte Einblicke. Ganz offenbar hing die Wahrscheinlichkeit, ob sich ein Mensch umbringt, entscheidend von Kriterien wie Nationalität, Ethnie, Religion, Geschlecht, Alter, Familienstand, Bevölkerungsdichte, Klima oder Jahreszeit ab. Selbst Wochentag und Uhrzeit spielten eine Rolle. So stellte Durkheim nüchtern fest, dass mehr Männer als Frauen, Protestanten als Katholiken, Alleinstehende als Verheiratete, Kinderlose als Eltern, Soldaten als Zivilisten oder Gebildete als Ungebildete den Freitod wählen.[i]
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Doch Durkheim beließ es nicht bei den statistischen Fakten – es ging ihm um die tiefer liegenden Ursachen. Suizid konnte kein psychologisches, sondern musste ein gesellschaftliches Phänomen sein. Anders ließen sich die länder-, konfessions-, geschlechts- oder schichtspezifischen Unterschiede der Selbstmordraten kaum erklären. Mit der Zeit destillierte Durkheim aus Daten und Hypothesen eine Typologie des Selbstmords: Protestanten etwa haben ein egoistisches Motiv. Obwohl beide Konfessionen Selbstmord verbieten, ist der Protestantismus individualistischer als der streng hierarchische und stärker integrierende Katholizismus. In weniger entwickelten Gesellschaften mit pantheistischen Religionen und knappen Ressourcen, aber auch in traditionsgebundenen modernen Staaten wie Japan, gibt es wiederum den altruistischen Selbstmord, dessen Ursachen nicht in der Vereinzelung, sondern, im Gegenteil, in einer zu wenig ausgeprägten Individualität zu suchen sind; zentrales Motiv ist es, anderen nicht zur Last zu fallen.[ii] Der anomische Selbstmord wird überall dort begünstigt, wo sich überkommene moralische Normen auflösen, insbesondere also in Zeiten des sozialen Wandels und des damit einhergehenden Verfalls traditioneller Ordnungen. Das führt überraschenderweise dazu, dass die Suizidhäufigkeit nicht nur während Wirtschaftskrisen, sondern auch in Phasen der Hochkonjunktur überdurchschnittlich hoch ist. Die Menschen leiden darunter, dass in guten Zeiten Bedürfnisse und Erwartungen stark ansteigen. Offenbar sind es Begrenzungen – sei es nach oben, sei es nach unten – die dem Menschen mentale Stabilität verleihen.[iii]
Eine neue Wissenschaft
Mit seinem Ansatz befindet sich Durkheim ganz in der Tradition des Positivismus. Anders als Locke oder Marx geht es ihm nicht darum, gesellschaftliche Tatbestände zu werten, sondern empirisch zu beschreiben und zu erklären. Keine einfache Aufgabe, denn die neue Wissenschaft der Soziologie ist ein weites Feld: Soziale Tatbestände umfassen Beziehungen zwischen zwei Menschen ebenso wie kulturelle Unterschiede zwischen zwei Nationen. Zwischen diesen Extremen gibt es eine schier endlose Zahl von Einflussfaktoren, die erklären könnten, warum menschliche Gesellschaften so sind wie sie sind. Was die neue Wissenschaft auszeichnet, ist die Kombination natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden. Ziel ist es, statistische Muster mit sozialem, kulturellem und historischem Beziehungswissen zu erklären. Je nach Betrachtungsgegenstand entsteht so eine Industrie- und eine Kriminalsoziologie, eine Soziologie der Marginalisierung, der Immigration, der ethnischen Gruppen, des Stadtlebens, der sozialen Schichten, der Geschlechter, der Paarbeziehungen, der Homosexualität, der Arbeitslosigkeit, der gesellschaftlichen Umgangsformen oder eben des Selbstmords.[iv]
Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft
Der Nationalökonom und Philosoph Ferdinand Tönnies (1855-1936) gilt als wichtiger Mitbegründer der deutschsprachigen Soziologie. In „Gemeinschaft und Gesellschaft“, 1887 erschienen, beschreibt er die beiden aus seiner Sicht grundsätzlichen Formen menschlichen Zusammenlebens: Mitglieder einer Gemeinschaft richten ihr Handeln an einem gemeinsamen, übergeordneten Zweck aus. Sie sehen sich – beispielsweise als Stämme, Klans, Dorfgemeinschaften oder Angehörige einer Religion – als Teil eines größeren Ganzen. Von einer Gesellschaft spricht Tönnies, wenn Menschen getrennt voneinander „im Zustande der Spannung gegen alle“ leben.[v] In Gesellschaften bedienen sich Menschen anderer Menschen, um eigene Zwecke zu verfolgen, etwa mittels Unternehmen oder moderner staatlicher Strukturen. Es ist der Individualisierungsprozess, der aus Gemeinschaften Gesellschaften entstehen lässt.
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Anfang der 1890er Jahre beschäftigte sich Durkheim in „Über soziale Arbeitsteilung“ mit der Frage, warum die Menschen in den westlichen Gesellschaften einerseits immer autonomer werden, andererseits aber immer mehr von der Gesellschaft abhängig sind. Den Grund für dieses Paradoxon sieht Durkheim in einer Veränderung der „sozialen Solidarität“. Der Gemeinsinn führt in traditionellen Gesellschaften (jene, die Tönnies als „Gemeinschaften“ bezeichnet) zu einer „mechanischen Solidarität“. Die Menschen teilen Anschauungen, Werte und Gefühle. Wer dagegen verstößt, wird durch ein repressives System hart sanktioniert. Moderne Gesellschaften üben hingegen eine „organische Solidarität“, deren Strukturen wesentlich differenzierter sind und bei denen Verträge und Arbeitsteilung eine zentrale Rolle spielen, während gemeinsame Anschauungen und Werte in den Hintergrund treten. Dies ist typisch für die hochgradig spezialisierten Industriegesellschaften, die dem Einzelnen eine extreme Abhängigkeit aufzwingen. Der Individualismus suggeriert dem modernen Menschen lediglich die Illusion von Unabhängigkeit.
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Die Religionssoziologie möchten erklären, warum man reich wird
„Das Territorium bietet, vom rauhen Waldgebirg zur fruchtbaren Tiefebene sich senkend, für die verschiedenen Berufe günstige Verhältnisse, und die ereignisreiche Geschichte der Landesteile mit ihren vielfachen Wechselfällen verleiht der Forschung einen besonderen Reiz“.[vi] Mit diesen poetischen Worten beschreibt der Volkswirt Martin Offenbacher im Jahre 1900 das Großherzogtum Baden. Doch dann wird er sachlich. Im fünften Heft des vierten Bandes der „Volkswirtschaftlichen Abhandlungen der Badischen Hochschulen“ stellt der Autor die Ergebnisse seiner statistischen Forschungsarbeit „Konfession und soziale Schichtung“ vor. Offenbacher hat den südwestdeutschen Landstrich ausgewählt, weil hier Katholiken und Protestanten seit der Reformation in einem eng verwobenen konfessionellen Flickenteppich nebeneinander leben. Seine detaillierten Auswertungen weisen nach, dass über alle Berufsgruppen, Gewerbe und Landesteile hinweg, die Protestanten den „unternehmenderen Teil“ der Bevölkerung ausmachen und „fast überall […] im Vorteil [sind], sei es, dass man die wirtschaftliche, sei es, dass man die gesellschaftliche Seite in den Vordergrund stellt.“[vii]
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Die Arbeit seines ehemaligen Studenten Offenbacher brachte den Mitherausgeber der „Volkswirtschaftlichen Abhandlungen“ ins Grübeln. Max Weber, 1864 in Erfurt geboren, hatte nach dem Studium der Rechtswissenschaften, Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte und akademischen Stationen in Berlin und Freiburg 1896 eine Professur für Nationalökonomie in Heidelberg angetreten. Aus den wirtschaftsgeschichtlichen Betrachtungen, die Weber anstellte, entstand eine der bedeutsamsten soziologischen Theorien überhaupt. Sie erschien 1904 und 1905 in zwei Teilen unter dem Titel „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.
Die Entzauberung der Welt
Weber geht in seiner Untersuchung den tieferen Ursachen der epochalen Veränderungen nach, die sich ab 1500 in Europa vollzogen. Anders als Marx sieht er sie nicht in veränderten Produktionsweisen und Besitzverhältnissen, sondern in einer neuen Art zu denken. Dieses Denken leitet die „Entzauberung der Welt“ ein und ist ursächlich für unser unstetes, modernes Leben. Das statische, gottgegebene Fundament des Mittelalters wurde durch eine neue Dynamik abgelöst, angetrieben vom Glauben an den Fortschritt und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Entfesselt wurde dieser Wandel durch ein zunehmend rationales Verhalten der Menschen. Es äußert sich im methodischen wissenschaftlichen Arbeiten, der ständigen Suche nach Prinzipien und Mustern, dem Wunsch, alles zu hinterfragen und überall die Grenzen des Machbaren auszuloten. Das streng formale System, mit dem Musik aufgezeichnet wird, gehört ebenso dazu, wie eine immer komplexer werdende Architektur oder die Feststellung „Zeit ist Geld“. Solche Denkweisen waren den Menschen zuvor vollkommen fremd. Früher hatte man Zeit – nun hatte man Uhren.
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Angstvoller Konsumverzicht
Die strenge, alles durchdringende rationale Zweckorientierung bleibt allerdings auf die westlichen Gesellschaften beschränkt. Das führt Weber zu der Frage, worin „die Ursachen für die occidentalen Sonderentwicklungen“ liegen, die den Aufstieg des Kapitalismus erklären. Gewinnstreben als solches ist es nicht – dieses liegt in der Natur aller Menschen. Das Wesen des Kapitalismus, sein Geist, kommt vielmehr in einer bestimmten Form von Erfolgsstreben zum Ausdruck, die Weber mit dem Begriff „Rentabilität“ beschreibt. Tatsächlich steckt in dem durchstrukturierten Räderwerk des Kapitalismus ein sehr irrationaler Aspekt. Liegt nicht der Zweck von Reichtum darin, ein gutes und entspanntes Leben führen zu können? Genau das aber verwehren sich die Kapitalisten. Arbeit und Mehrung des Reichtums scheinen im Kapitalismus Selbstzweck zu sein. Das Geld wird nicht, wie Adel und Klerus dies tun, konsumiert, sondern akkumuliert, um dann rentabilitätssteigernd reinvestiert werden zu können. Es ist diese merkwürdige Verbindung aus rationalem und irrationalem Verhalten, die das Handeln des entstehenden Bürgertums im nördlichen Europa bestimmt.
Die Macht der Religion
Offenbachers empirische Studie liefert Weber den Schlüssel zur Erklärung dieses seltsamen Umstandes. Dass Kapitalismus und Protestantismus gleichzeitig entstanden sind, ist für Weber kein Zufall. Zwischen rationaler Gewinnmaximierung und protestantischem Berufsethos besteht ein enger Zusammenhang. Auslöser der neuen Dynamik war die Reformation, genauer eine besondere Variante des Protestantismus, der Calvinismus. Der französische Reformator Jean Calvin (1509-1564) hatte Mitte des 16. Jahrhunderts die auf Augustinus zurückgehende „Prädestinationslehre“ wieder aufgegriffen, nach der das jenseitige Schicksal eines jeden Menschen – Himmel oder Hölle – bereits vor seiner Geburt festgelegt ist. Der Allwissende weiß von vornherein, wer ein gottgefälliges Leben führen wird. Die calvinistische Lehre wurde insbesondere durch ausgewanderte französische Hugenotten, die im katholischen Frankreich grausam verfolgt wurden, in die Niederlande, die Schweiz und nach Deutschland getragen. Auf den Britischen Inseln etablierte sich der Calvinismus in Form des Puritanismus.
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Die Ungewissheit, ob man zu den Auserwählten gehört, lastete schwer auf den Calvinisten. Ein gottgefälliges, arbeitsames und sündenfreies Leben war Voraussetzung, aber noch keine Garantie für das Himmelreich. Diese psychologische Bürde ließ die Calvinisten nach Hinweisen Ausschau halten, die Rückschlüsse auf ihr jenseitiges Schicksal zuließen. Wohlstand war ein solcher Fingerzeig Gottes. Gelangte man zu Reichtum, wies die Lebensführung in Richtung Paradies. Weber ist überzeugt, dass dieser Wunsch nach Selbstvergewisserung ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus im nördlichen Europa war. Die Mehrung des Wohlstands ergab sich fast zwangsläufig aus der Kausalkette von Konsumverzicht, Sparen und Reinvestieren. Erlösung war damit nicht mehr eine mystische göttliche Gnade, sondern ließ sich durch eine fleißig-asketische Grundhaltung erarbeiten. So entstand aus dem protestantischen Arbeitsethos der Geist des Kapitalismus.
Weber stellt ausdrücklich fest, dass das neue Wirtschaftsmodell kein alleiniges „Erzeugnis der Reformation“ war; er weist darauf hin, „dass gewisse Formen des kapitalistischen Geschäftsbetriebs notorisch erheblich älter sind“.[viii] Doch zweifellos kommt der protestantischen Ethik bei der Entstehung des Kapitalismus die zentrale Rolle zu.
Die Erklärmacht von Webers Theorie ist beeindruckend. Die „Entzauberung der Welt“ fällt zusammen mit Tönnies Übergang von der Gemeinschaft zu individualistischen, am ökonomischen Erfolg ausgerichteten Gesellschaft. Sie erklärt die Wohlstandsverteilung des Großherzogtums Baden ebenso wie die heutigen, teils erheblichen Unterschiede beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zwischen Nord- und Südeuropa, Nord- und Südamerika sowie die auffällige Asymmetrie bei der Vergabe von Nobelpreisen.[ix] Auch wenn der Glaube im Alltag vieler Menschen in den protestantisch geprägten Ländern heute keine große Rolle mehr spielen mag, so bleiben wesentliche Teile des zugrundeliegenden Ethos für das Handeln weiterhin bestimmend.
Weber begründete mit der „Protestantischen Ethik“ die Religionssoziologie. In einer Reihe weiterer Aufsätze, die unter dem Titel „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ veröffentlicht wurden, weitete er seine Analyse auf Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus und das antike Judentum aus.[x] Für jede dieser Religionen möchte Weber nachweisen, warum sich aus ihnen heraus kein kapitalistisches System entwickeln konnte. Zwar durchliefen auch sie alle eine Phase der Rationalisierung, doch keine begünstigte in ihrem jeweiligen politisch-sozialen Kontext eine nüchtern-asketische Lebensführung. Der Konfuzianismus etwa ist für Weber Ausdruck einer „Beamtenmoral“, die die bestehenden Verhältnisse stabilisieren möchte und in Gewinnstreben vor allem die Gefahr sozialer Unruhen sieht. Als ein „Rationalismus der Ordnung“ ließ er für die Entwicklung des Individuums keinen Raum. Allein das Judentum stellt eine Ausnahme dar, denn es teilt eine wichtige Eigenschaft mit dem Christentum: Anders als die fernöstlichen Religionen, wenden sich die beiden monotheistischen Bekenntnisse nicht von der Unvollkommenheit der Welt ab, sondern möchten sie zum Besseren verändern.
Wann verhalten wir uns? Wann handeln wir?
Die Transformationsmechanismen, die in die moderne Welt führen, sind auch das Leitmotiv von Webers Handlungstheorie. Sie widmet sich dem Spannungsfeld von rationalem und irrationalem Handeln. Grundlage ist die Unterscheidung zwischen „Verhalten“ und „Handeln“. Verhalten charakterisiert Weber ganz im biologischen Sinn: Es ist durch Regelmäßigkeit gekennzeichnet, vollzieht sich unbewusst, ist aber stets im positivistischen Sinne erklärbar. Dem gegenüber ist Handeln immer absichtsvoll, also mit einem subjektiven Sinn verbunden. Es ist im Sinne Diltheys allenfalls verstehbar.
Das konkrete Handeln eines Individuums bezeichnet Weber als „Lebensführung“. Wie rational oder irrational ein Individuum agiert, wird von einer Reihe sozialer Einflussfaktoren bestimmt. Zwischen den Extremen eines rein rationalistischen Kopfmenschen und einer von reiner Willkür getriebenen Person, finden sich vier weitere Grundtypen: Wer sich bei seinem Tun nach Zweck, Mitteln und Konsequenzen ausrichtet, handelt zweckrational; wer sich von ethischen, religiösen oder ästhetischen Überzeugungen leiten lässt, handelt wertrational; wessen Handeln von Emotionen bestimmt wird, entspricht dem affektuellen Typus; wer Mustern folgt, die von anderen vorgelebt werden, handelt traditional. Die vier Typen finden sich beispielsweise anhand von Wählern illustrieren. Derjenige, der Parteiprogramme detailliert studiert, mit seiner Lebenssituation abgleicht und Wahrscheinlichkeitsüberlegungen darüber anstellt, welche Wahlversprechen auch umgesetzt werden, um schließlich die Partei zu wählen, die seine Kriterien maximiert, verhält sich zweckrational. Wertrational verhält sich, wer die Partei wählt, die seinem ethischen oder religiösen Weltbild am nächsten steht. Wer sich spontan nach einfachen Slogans auf Wahlplakaten richtet, handelt affektuell. Wer die Partei wählt, die auch schon seine Eltern gewählt haben, handelt traditional. Weber stellt klar, dass dies „Idealtypen“ sind; in der Realität ist unser soziales Handeln stets eine Mischung verschiedener Motive.
Webers Handlungstypen
Auch Webers bekannte Unterscheidung zwischen Verantwortungsethikern und Gesinnungsethikern, knüpft an dieses Handlungsschema an. Sein 1919 gehaltener Vortrag „Politik als Beruf“ verbindet die Charaktere des zweckrationalen und des wertrationalen Entscheiders mit den beiden Grundpositionen der Moral. Der Verantwortungsethiker richtet sein Handeln an zweckrationalen, utilitaristischen Überlegungen aus; für ihn stehen die Konsequenzen seines Handelns im Mittelpunkt. Der Gesinnungsethiker hört mehr auf seine innere Stimme; sein Handeln ist primär an Werten orientiert und seine Ethik ist die des kategorischen Imperativs. Diese beiden Positionen stecken für Weber das Spannungsfeld ab, innerhalb dessen Politiker das rechte Maß finden müssen.
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Webers Handlungstypen lassen sich auch mit Tönnies‘ Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in Verbindung bringen: Die Gemeinschaft beruht auf einem affektuellen oder traditionalen Gefühl. Eine Gesellschaft hingegen gründet auf zweck- oder wertrationalen Übereinkünften. Der Rationalismus, der die modernen westlichen Gesellschaften auszeichnet, bestimmt also nicht nur die Wirtschaft, er durchzieht vielmehr die gesamte Gesellschaft. Dies zeigt sich etwa in der Bürokratie und in einem immer komplexer werdenden Gesetzes- und Vertragswesen. Sie machen den Unterschied zu Machiavellis chaotischem Feudalstaat deutlich: Der moderne Staat benötigt weder charismatische Führer noch traditionelle Erbmonarchen; seine Legitimität beruht auf Gesetzen, auf einer „legal-rationalen“ Autorität, letztlich dem Glauben an das System selbst. Ein Staatsdiener verrichtet seine Arbeit nicht wie ein mittelalterlicher Handwerker aufgrund überkommener Regeln, sondern führt aus, was die Gesetze und Vorschriften von ihm fordern. Gibt es eine neue Regel, folgt er dieser, ohne zu zögern. Bürokraten und Technokraten sind Spezialisten, die in eine klare Hierarchie eingebunden sind und auf der Basis von detaillierten Vorschriften bevorzugt schriftlich kommunizieren. Ein Sachverhalt wird nach einem fest vorgegebenem Schema bearbeitet und – anders als in vormoderner Zeit – ohne Ansehen der Person. Nach dieser Logik funktionieren Finanzämter, Gemeindeverwaltungen, Meldeämter, Katasterämter, Arbeitsämter, Gesundheitsämter, Prüfstellen, Staatsanwaltschaft und Polizei. Der moderne Staat ist ein Regelapparat, dessen Regeln den Herrscher ersetzt haben. Das macht die auf Gesetzen beruhende Bürokratie neben der charismatischen und der traditionalen Autorität zur dritten und jüngsten gesellschaftlichen Autoritätsform.
Die Rolle von Klassen, Ständen und Parteien
Webers Arbeitseifer verdanken wir noch eine weitere bedeutsame Typologie. Mit seiner Schichtentheorie möchte er die Position eines jeden Individuums in der Gesellschaft durch drei Parameter bestimmen. Der erste Parameter sind die Klassen. Sie sind die wirtschaftliche Perspektive. Während Marx lediglich in Abhängigkeit vom Besitz der Produktionsmittel Bourgeoisie und Proletariat unterscheidet, differenziert Weber hier stärker. Es gibt Besitzende, eine besitzlose Intelligenz, ein Kleinbürgertum, also Handwerker und selbständige Bauern, und die Arbeiterschaft. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Besitzverhältnisse, sondern auch bezüglich Aufstiegschancen und Erwerbsmöglichkeiten. Der zweite Parameter sind die Stände. Sie sind die soziale Ordnungsdimension. Man gehört etwa einem bestimmten Berufsstand an, der mit mehr oder weniger Prestige verbunden ist. Dazu gehört auch ein gewisser Lebenswandel und dass man bevorzugt mit seinesgleichen verkehrt. Die Stände sind daher ein traditionelles, stabilisierendes, oft aber auch lähmendes Element der gesellschaftlichen Ordnung. Der dritte Parameter schließlich sind die Parteien. Sie repräsentieren die Sphäre der Macht. Parteien sind institutionalisierte Interessengruppen, typischerweise in Form von politischen Parteien, aber auch Verbände oder Kirchen fallen unter diese Definition. Als Zweckbündnisse, manchmal nur auf Zeit geschlossen, verfolgen sie systematisch ein bestimmtes Ziel. Letztlich geht es darum, den Parteiführern eine Machtbasis zu sichern, mit der diese wiederum den Mitgliedern die Möglichkeit verschaffen, sachliche Ziele durchzusetzen oder persönliche Vorteile zu erlangen.[xi]
Jedes Mitglied der Gesellschaft kann damit nun hinsichtlich wirtschaftlicher, sozialer und machtpolitischer Kriterien zugeordnet werden. Ein Pfarrer hat ein hohes soziales Prestige, gehört ob seiner Besitzverhältnisse allerdings einer niederen Klasse an, zugleich aber auch einer durchaus mächtigen „Partei“. Ein reicher Privatier, der sein Vermögen ererbt hat, gehört einer hohen Klasse an, verfügt aber nur über einen niedrigeren Status. Ein Beamter mit bescheidenem Einkommen kann wiederum mit beträchtlichen Machtbefugnissen ausgestattet sein. Reiche Unternehmer oder ehrgeizige Intellektuelle haben die Möglichkeit, das Prestige ihrer Klasse oder ihres Berufstands in politische Macht umzuwandeln.
Die Breite seiner gedanklichen Ansätze macht Weber neben Durkheim zur zentralen Figur der neuen Wissenschaft von der Gesellschaft. Auf diesem Fundament werden die nun kommenden Soziologengenerationen aufbauen.
Wer mehr wissen will:
Tönnies, Ferdinand (1935): „Gemeinschaft und Gesellschaft“, Buske.
Weber, Max (1919): „Politik als Beruf“, Vortrag.
Weber, Max (1922): „Wirtschaft und Gesellschaft“, Mohr.
Weber, Max (1922): „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre“, Mohr.
Weber, Max (1988): „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, Mohr.
Weber, Max (2017): „Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus“, Reclam.
Durkheim, Émile (1897): „Le suicide : Étude de sociologie “, Félix Alcan
Offenbacher, Martin (1900): „Konfession und soziale Schichtung“, Mohr.
Lorenz, Ansgar/Ntemiris, Nektarios (2015): „Klassiker der Soziologie: Eine illustrierte Einführung“, Wilhelm Fink.
Anmerkungen:
[i] Weitere Feststellungen waren unter anderem, dass sich in Ruhephasen – über Mittag und an Wochenenden – weniger Menschen umbringen und dass die Suizidrate in Friedenszeiten höher ist als während eines Krieges.
[ii] Dieses Verhalten ließe sich heute auch aus evolutionsbiologischer Sicht im Sinne des egoistischen Gens erklären.
[iii] In einer Fußnote erwähnt Durkheim noch einen vierten Typus, den fatalistischen Selbstmord. Er ist verbunden mit einer Perspektivenlosigkeit und der systematischen Unterdrückung natürlicher Triebe. Dazu zählt etwa der gemeinsame Selbstmord junger Liebespaare oder verzweifelter Sklaven. Durkheim misst dieser Form nur eine geringe praktische Bedeutung bei.
[iv] Auf den historischen Begründer der Soziologie als Wissenschaft, den Franzosen Auguste Comte werde ich nochmal in einem separaten Blog eingehen.
[v] Tönnies (1935) S.40.
[vi] Offenbacher (1900) S. 410.
[vii] Offenbacher (1900) S. 476.
[viii] Weber (2017) S. 76. Zu den „notorisch“ älteren Formen gehört beispielsweise das Rechnungswesen.
[ix] Der amerikanische Soziologe Robert King Merton stellte 1938 die These auf, dass die naturwissenschaftliche Revolution der Aufklärung vor allem durch englische Puritaner und deutsche Pietisten getragen wurde. Tatsächlich sind sechs der zehn Länder mit den meisten zugesprochenen Nobelpreisen primär protestantisch geprägt. Sie repräsentierten nur rund 6% der Weltbevölkerung aber rund 83 % aller vergebenen Preise (Stand 2019). Den Vereinigten Staaten wurden bis 2010 insgesamt 305 Nobelpreise zugesprochen, allen lateinamerikanischen Staaten zusammen hingegen nur sechs.
[x] Seinen Plan, auch den Islam religionssoziologisch zu analysieren, konnte Weber nicht mehr realisieren. Er starb 1920, wahrscheinlich an den Folgen der Spanischen Grippe.
[xi] Vgl. Weber (1922) Wirtschaft und Gesellschaft Kapitel 1, § 18.