Rätselhaftes Bewusstsein
Im letzten Blog habe ich versucht, die physikalische Entwicklung und die sich aus ihr ergebende chemische und biologische Evolution in wenigen Zeilen zusammenzufassen. Bewusstsein ist die wohl jüngste und spektakulärste Errungenschaft der biologischen Evolution. Der Neurophysiologe und Gehirnforscher Wolf Singer beschreibt Bewusstsein als einen mutmaßlich „metastabilen Zustand eines massiv distributiv organisierten Systems mit nicht-stationärer, nicht-linearer Dynamik“. Eine - zugegeben - ziemlich wissenschaftliche Formulierung. Letztlich bedeutet sie, dass wir aufgrund der außerordentlichen Komplexität der zugrundeliegenden Vorgänge nicht die geringste Vorstellung davon haben, wie Bewusstsein in unserem Kopf entsteht.
Wir sind allein
Das Wissen um die eigene Existenz kann Segen oder Fluch sein. Fest steht: Mit unserer Selbsterkenntnis stehen wir bis heute völlig allein da. Die anderen Vertreter unserer biologischen Gattung – Homo erectus, Homo neanderthalensis oder der Denisova-Mensch – Arten, die vielleicht vergleichbare geistige Zustände hätten entwickeln können, sind allesamt ausgestorben. So, wie Elefanten als evolutionäre Strategie auf das Multifunktionswerkzeug Rüssel gewettet haben, hat unsere Spezies als einzige konsequent auf das Bewusstsein gesetzt. Mit unserem „Kalkül“ waren wir, so scheint es, bisher durchaus erfolgreich, zumindest wenn man die heutige Anzahl der Vertreter unserer Spezies, deren globale Ausbreitung und Dominanz zum Maßstab nimmt.
Grundlage der kulturellen Evolution
Wie auch immer es in unserem Gehirn erzeugt wird: zweifellos ist allein unser Bewusstsein Grundlage und zwingende Voraussetzung unserer atemberaubenden kulturellen Evolution. Sie übertrifft die die Geschwindigkeit der biologischen Evolution um einen vielhunderttausendfachen Faktor. Gleichwohl sind auch wir Menschen zunächst ein Produkt der langsamen biologischen Evolution des Lebens auf unserem Planeten. Taxonomisch gesehen sind wir Säugetiere aus der Ordnung der Primaten, der Unterordnung der Trockennasenaffen und der Familie der Menschenaffen, Cousins der Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans. Ein nackter Affe! Doch nur wir haben jene mentalen Zustände und kommunikativen Fähigkeiten entwickelt, die uns auch zu einer kulturellen Evolution befähigen. Wir nehmen uns selbst als eigenes Wesen wahr, können den Dingen, die uns umgeben, Symbole zuordnen, abstrakte Begriffe erfinden und uns sogar etwas ausdenken, das gar nicht existiert. Wir sind das Tier, das denkt, dass es denkt, fühlt dass es fühlt und weiß, dass es weiß.
Die Früchte vom Baum der Erkenntnis
Das Wissen um uns selbst und um unser Eingebundensein in die Welt hat sehr weitreichende Konsequenzen: Wir können uns für oder gegen etwas entscheiden, Fragen und Fallen stellen, das Verhalten anderer als mutig, ängstlich, feige, berechnend, heuchlerisch, hilfsbereit, gleichgültig oder selbstlos bewerten, Kunst schaffen, uns Götter, Geister und Dämonen vorstellen und Geschichten erzählen. Und: wir wissen um unsere eigene Sterblichkeit.
Unser Bewusstsein befähigt uns, jene Muster aus „Zufall und Notwendigkeit“ zu erkennen, die die Welt um uns herum bestimmen. Wir können den Entwicklungsprozess der Natur, von der Entstehung der Elementarteilchen über Atome und Moleküle bis hin zum Leben und „Erleben“ nachvollziehen. Unser Verstand erlaubt es, Fragen nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen, nach der Wahrheit, nach vernünftigen Regeln des sozialen Zusammenlebens oder wie ein gemeinschaftlich erwirtschafteter Wohlstand verteilt werden soll.
Bewusstsein beinhaltet die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns gedanklich durchspielen zu können und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Die Bibel beschreibt dieses Erwachen als den Sündenfall: Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen und wissen seitdem, was Gut und Böse ist. Tiere hingegen haben diese Möglichkeit nicht. Auch wenn wir es manchmal so wahrnehmen: Ihr Verhalten ist weder grausam noch edel oder im eigentlichen Sinne intelligent. Dass wir zwischen mehreren Zielen wählen können und dabei neben praktischen auch moralische Kriterien einfließen lassen, ist einer der radikalsten Unterschiede zwischen uns und allen anderen Tieren.
Experiment mit ungewissem Ausgang
Neben der Ratio existiert aber auch das uralte tierische Erbe in unserem Verhalten weiter fort. Unser Neokortex, die äußerste und evolutionsgeschichtlich jüngste Gehirnschicht, befindet sich in permanenter Spannung mit unserem wesentlich älteren Reptiliengehirn. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass oft genug erst das Fressen und dann die Moral kommt. Ob sich das Bewusstsein aus Sicht der Evolution dauerhaft als überlegene Strategie durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Menschenbilder
Menschsein bedeutet als Individuum, Familienmitglied, Angehöriger einer Sippe oder einer modernen Gesellschaft, mit diesem Spannungsfeld umzugehen. Aus den Konflikten zwischen evolutionärem Erbe und Ratio erklärt sich die Komplexität unseres Handelns. Um Menschen zu verstehen, reichen naturwissenschaftliche Methoden allein nicht aus; wir benötigen zusätzliche Perspektiven, die wir als Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften bezeichnen (im Englischen üblicherweise unter dem Begriff „Humanities“ zusammengefasst). Anders als in den Naturwissenschaften geht es hier nicht mehr allein um die Frage, wie etwas ist, sondern auch darum, wie etwas sein soll. Religion, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften oder Ökonomie sind zu wesentlichen Teilen der Versuch, Regeln zu definieren, wie wir als Gruppentiere mit unserer Entscheidungsfreiheit umgehen sollen. Die Humanwissenschaften stellen dafür ethische Normen auf und erschaffen Menschenbilder wie den Homo politicus oder den Homo oeconomicus.
Wettbewerb der Ansichten
Ein übersichtliches Theoriensystem, wie für die Naturwissenschaften, ist aus dieser Auseinandersetzung bisher allerdings noch nicht hervorgegangen. Es gibt keine umfassende Menschen-Theorie, die sich empirisch-objektiv überprüfen ließe. Folglich sind praktisch alle uns heute vorliegenden Erklärungsansätze heftig umstritten. Die Konsequenz unseres Bewusstseins ist, dass eine kaum zu überschauende Zahl möglicher Weltbilder in Konkurrenz zu ihren sämtlichen Mitbewerbern steht. In den kommenden Blogbeiträgen zu den Themen Sprache, Philosophie, Gesellschaft, Ökonomie und Geschichte der Menschheit möchte ich versuchen, die grundlegenden Perspektiven auf das Menschsein etwas zu systematisieren.
Weiterführende Literatur:
Singer, Wolf (2004): „Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung“, Vortrag, Heidelberg.
Kandel, Eric (2006): „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, Pantheon.
Schon wieder kommt von mir allein
von mir ein Kommentar voll Bewusstsein rein,
wenn auch nichts weiter als nur schöner Schein.
Den Geist erkennen,
beim Namen nennen,
dazu noch bitten
bei unseren Schritten,
uns zu begleiten
und anzuleiten,
beschert Segen
auf unseren Wegen
– nicht nur am 1. Mai,
denn der ist bald vorbei –,
doch Mai geht noch weiter,
was mich macht heiter . . .
Das Denken von Gedanken
bei Gesunden und bei Kranken
findet statt im Bewusstsein
und ist vom Geist der helle Schein,
der sich in der Bibel äußerte schlicht
mit dem UR-WORT ES WERDE LICHT.