Drei Begegnungen
Ich hatte ganz persönlich drei prägende Erfahrungen mit der Chemie. Die erste war meine allererste Chemiestunde. Ein Professor der Fachhochschule meiner Heimatstadt hatte kurzfristig die Vertretung für den erkrankten Chemielehrer übernommen. Er kam in den gekachelten Chemiesaal und stellte sich wortlos vor unsere Klasse. Dann ließ er ein Reagenzröhrchen auf den Boden fallen, das natürlich in tausend Scherben zersprang. Er fragte uns lächelnd: Ist das jetzt Chemie oder Physik? Ein wirklich begnadeter Pädagoge, wie es nur wenige gibt. Wie viele Unterrichtsstunden gibt es, an die wir uns nach Jahrzehnten noch erinnern können?
Zwei Jahre später war mein Interesse an Chemie immerhin noch so groß, dass ein Freund und ich anfingen, mit Schwarzpulver zu experimentieren. Die Zutaten in einer Drogerie zu beschaffen, war damals kein Problem. Wir haben das Pulver dann in einer elektrischen Kaffeemühle ganz fein gemahlen. Heute weiß ich: Dass ich immer noch alle zehn Finger habe, grenzt an ein Wunder.
Meine dritte eindrückliche Erfahrung machte ich erst Jahrzehnte später. Ich hatte den Wunsch, meine Bildungslücken im Bereich der Naturwissenschaften zu schließen. (Daraus ist dann irgendwann die Idee zu meinem Buchprojekt entstanden.) Ich dachte mir damals ziemlich unbedarft, dass ich einfach mal mit Chemie anfangen könnte. Immerhin hatte mir das Fach in der Schule zumindest am Anfang mal Spaß gemacht…
Chemie ist auch nur Physik
Nachdem ich mich eine Zeitlang mit der neuen Materie auseinandergesetzt hatte, habe ich irgendwann realisiert, dass man Chemie nicht ohne physikalische Grundlagen verstehen kann. Es hat dann nochmal eine Weile gedauert, bis ich begreifen konnte, dass Chemie im Grunde nur eine spezielle Form der Physik ist. Die Prinzipien, die sämtlichen chemischen Abläufen zugrunde liegen, basieren auf einem zentralen Leitmotiv der Natur: der Sehnsucht nach Stabilität. Mittel zum Zweck ist im Falle der Chemie allein die physikalische Grundkraft des Elektromagnetismus. In dieser Hinsicht ist Chemie also nichts weiter, als die Physik der Elektronenschalen.
Eine gewaltige Brücke
Doch diese mechanistische Betrachtung allein greift zu kurz. Denn schließlich hängt das Periodensystem der Elemente großformatig im Chemiesaal und nicht im Physikraum. Aber was rechtfertigt Chemie dann als eigenständigen Wissensbereich? Um diese Frage zu beantworten, genügt es, zwei völlig unterschiedliche Elemente zu betrachten: Natrium ist ein weiches, silbrig glänzendes Metall, ätzend und leicht entzündlich. Chlor hingegen ist kein Metall, hat einen stechenden Geruch, ist in festem Zustand grüngelb und so giftig, wie es riecht und aussieht. Beide Elemente wirken für sich jeweils nicht besonders sympathisch. Verbinden sie sich aber miteinander, entsteht Natriumchlorid, besser bekannt als Kochsalz. Kochsalz teilt keine einzige Eigenschaft seiner beiden Komponenten: Ein festes, sprödes, opak-kristallines und wasserlösliches Mineral, der Gefahrenstoffverordnung gänzlich unbekannt, ohne das wir nicht leben können. Genau deshalb ist Chemie einer eigenen Betrachtung wert: Aus kaum 100 Ausgangsstoffen ergibt sich eine unübersehbare Fülle an Möglichkeiten, Neues zu schaffen.
Chemie beschreibt, wie sich die Materie organisiert. Damit schlägt sie eine sehr weite Brücke, eine Brücke, die Quantenphysik mit Biologie verbindet. Denn auch unser Körper und selbst unser Bewusstsein sind letztlich nur gigantische, hochkomplexe Chemiecocktails. In der Kategorie „Chemie“ dieses Blogs soll es um jene Gesetze gehen, die diesen gewaltigen Bogen zu spannen vermögen.
Der Rhythmus der Elemente
Betrachten wir die Entdeckungsgeschichte der Naturwissenschaften, so stoßen wir immer wieder auf das bemerkenswerte Phänomen, dass zwei Menschen gleichzeitig und unabhängig voneinander zu derselben bahnbrechenden Erkenntnis gelangten. Manchmal scheint die Zeit einfach reif für etwas Neues zu sein. So war es in den 1670er Jahren, als Newton und Leibniz die Infinitesimalrechnung entwickelten, und so war es auch 1869. In diesem Jahr veröffentlichten Dimitri Mendelejew und Lothar Meyer, ohne voneinander zu wissen, eine nüchterne tabellarische Darstellung, die ein völlig neues Licht auf die Atome warf. Beiden war etwas aufgefallen: Sortiert man die Elemente nach ihrem Gewicht, offenbaren sie einen geheimnisvollen Rhythmus, eine merkwürdige Ordnung sich periodisch wiederholender Eigenschaften. Heute hängt diese Tabelle hunderttausendfach in den Chemiesälen sämtlicher Mittel- und Oberschulen der Welt.
In ihren Spalten und Zeilen verbirgt sich der Schlüssel zum Verständnis der Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die Materie zu immer komplexeren Verbindungen aggregiert. Die kompliziertesten chemischen Verbindungen, die sich aus diesen Gesetzen ergeben, sind jene die das Leben hervorbringt.
Unbekannte Pioniere
Während die Namen berühmter Mathematiker und Physiker sich notorischer Bekanntheit erfreuen (wer hat noch nie von Pythagoras, Gauß, Newton oder Einstein gehört?) sind die „Helden“ der Chemie weitgehend ohne Ruhm geblieben. Doch die Menschheit verdankt Robert Boyle, Antoine Laurent de Lavoisier, Justus von Liebig, Dimitri Mendelejew oder Linus Pauling tatsächlich eine ganze Menge. Die von ihnen entdeckten Gesetze und Stoffeigenschaften haben wesentlichen Anteil an der Entstehung der modernen Welt. Die Begründung der organischen Chemie vor knapp 200 Jahren befeuerte die Industrielle Revolution und ist heute insbesondere Grundlage der pharmazeutischen Industrie, die uns Heilungsmöglichkeiten in Aussicht stellt, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren. Grund genug, die Leistungen der Chemie-Pioniere in den kommenden Chemie-Blogs etwas mehr zu beleuchten…
Weiterführende Literatur:
Sacks, Oliver (2003): „Onkel Wolfram: Erinnerungen“, Rowohlt
Moore, John T. (2020): „Chemie kompakt für Dummies“, Wiley-VCH
Wieder sehr schön und sehr klar. Freilich schreien die Grundlagen der Chemie noch mehr als die anderer Fachgebiete nach Ergänzung. Physik und Gegenstände, Biologie und Pflanzen und Tiere, Psychologie, Soziologie, Geschichte alle begegnen uns in einfacher Form im täglichen Leben. Aber was hat Kochsalz mit Chlor zu tun? Da wird es gleich kompliziert, und wenn man Elektronenschalen und Valenzen erwähnt, wird es eher noch komplizierter.
Kein Wunder, dass das interessiert bzw. als zu kompliziert abstößt. Gewiss ist Quantentheorie noch komplizierter, aber die begegnet uns nicht gleich bei den grundlegenden Gesetzen der Physik.