Was wir alles nicht wissen
Dieser Blog (und mein Buch) sind der Versuch, die wichtigsten Theorien vorzustellen, die für die ausgewählten Wissensgebiete den Anspruch haben, die Welt – oder zumindest wesentliche ihrer Aspekte – zu erklären. Bei der Auswahl ging es mir nicht darum, ob ich glaube (oder sonst irgendjemand glaubt), dass diese Theorien richtig sind, sondern darum, welche praktische Bedeutung diese Theorien im Laufe der Geschichte entfaltet haben und welche „Erklärungsmacht“ ihnen heute zugesprochen wird.
Bei den Recherchen bin ich aber auch immer wieder darüber gestolpert, was wir heute alles NICHT wissen – und das ist tatsächlich eine ganze Menge. Es gibt zahlreiche Fälle, bei denen unser Wissen an Grenzen stößt. Ich versuche hier einmal einen Überblick zu geben. Für eine Systematik würde ich vier verschiedene Gründe von Nichtwissen vorschlagen (ich freue mich über Kritik oder Kommentare):
Methodischer Zweifel
Limitationen unserer Sinne
Potentiell lösbare Fragen
Grundsätzliche Erkenntnisgrenzen
Methodischer Zweifel
„Was kann ich wissen?“ ist die erste der vier berühmten „kantschen Fragen“. Es geht also um Erkenntnistheorie, das philosophische Fachgebiet der Epistemologie. Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass wir uns stets darüber im Klaren sein müssen, dass alle Erkenntnis immer nur vorläufig ist: Wir meinen etwas zu wissen, weil es sich augenscheinlich mit unseren Beobachtungen deckt. Das ptolemäische Weltbild etwa war in jeder Beziehung plausibel, bis Kopernikus, Kepler und Galilei zu der Erkenntnis kamen, dass es auch anders sein könnte und sich die Beobachtungen auch mit einem Modell erklären lassen, das die Sonne in den Mittelpunkt des Universums rückt. Heute wissen wir, dass die Sonne zwar Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist, keinesfalls aber das Zentrum des Universums.
Es gibt einige Beobachtungen, die nahelegen, dass auch unser heutiges Verständnis der Kosmologie zumindest unvollkommen, vielleicht aber auch schlichtweg falsch ist und wir keine Ahnung haben, wie wir diese Beobachtungen mit unserem heutigen Modellen versöhnen können. Da gibt es etwa den merkwürdigen Umstand, dass es eigentlich sehr viel mehr Materie im Universum geben müsste, als wir sehen können.
Die für uns sichtbaren Sterne umkreisen das Zentrum ihrer Galaxien schneller, als wir aufgrund der uns bekannten Gravitationsträger erwarten würden. Etwa 85% aller Materie, die es demnach im Universum geben müsste, interagiert offenbar nicht mit elektromagnetischen Wellen, das heißt, sie ist unsichtbar und wird daher als „Dunkle Materie“ bezeichnet. Wir haben heute weder eine Vorstellung davon, ob es diese riesigen Stoffmengen überhaupt gibt, noch wie sie sich aufspüren lassen könnten. Dies nur als Beispiel, dass wir uns nie sicher sein können, dass unsere Annahmen über die Welt auch tatsächlich richtig sind.
Der Urheber dieses methodischen Zweifels war übrigens René Descartes, der mit seinem Ansatz einen Neustart der abendländischen Philosophie initiierte. Alles, was wir wahrnehmen, kann grundsätzlich eine Täuschung sein. Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist die, dass wir als denkendes Wesen existieren. Das ist sein berühmtes „cogito ergo sum“. Sonstige Gewissheiten gibt es erst einmal nicht und müssen schrittweise von diesem einzigen Ur-Axiom aus wieder zurückgewonnen werden. Es steht außer Frage, dass dieses von Descartes aufgehängte Damoklesschwert, das permanente, systematische Hinterfragen unseres vermeintlichen Wissens, seitdem eine der wichtigsten Triebfedern des wissenschaftlichen Fortschritts ist.
Limitationen unserer Sinne
Eine weitere Erkenntnisgrenze wird uns unmittelbar durch unsere Sinne auferlegt. Die Erklärung hierfür liefert die Evolutionstheorie. Unsere Möglichkeiten, die Welt zu verstehen sind limitiert, denn unsere Sinnesorgane wurden nicht geschaffen, um die Welt zu verstehen, sondern um in ihr überleben zu können. Die knappen Rechenkapazitäten unseres Gehirns haben andere Prioritäten, als elektromagnetische Wellen zu erfassen, die außerhalb jenes Spektrums liegen, das wir als Licht oder Wärme wahrnehmen. Als Homo sapiens werden wir daher niemals wissen, wie ultraviolette, radioaktive oder langwellige Strahlen aussehen oder wie sie sich anfühlen. Genauso wenig haben es die Evolutionsmechanismen als relevant erachtet, die von Einstein entdeckte Raumkrümmung wahrnehmen zu müssen. Eine dreidimensionale Wahrnehmung der Welt war für unsere Vorfahren gut genug, um sich von Ast zu Ast zu schwingen. Immerhin ist es uns heute möglich mit entsprechenden Apparaten physikalische Phänomene außerhalb unseres Wahrnehmungshorizonts zu messen und mathematisch zu beschreiben. Das aber ändert nichts daran, dass uns der sinnliche Zugang verwehrt bleiben wird.
Potentiell lösbare Fragen
Potentiell lösbare Fragen sind jene, bei denen die Wissenschaft heute gewissermaßen noch „auf dem Schlauch steht“. Dazu gehört etwa, dass die moderne Physik nicht in der Lage ist alle Widersprüche zwischen der allgemeinen Relativitätstheorie und dem „Standardmodell der Teilchenphysik“ aufzulösen. Eine Theorie, die beides vereinen könnte, wird gemeinhin als „Weltformel“ bezeichnet. Das Teilchen, das die Schwerkraft vermittelt – das mutmaßliche Graviton – konnte bis heute durch keinen noch so elaborierten Teilchenbeschleuniger nachgewiesen werden. Aber es erscheint nicht grundsätzlich undenkbar, dass wir eines Tages dieses Rätsel werden lösen können.
Andere Beispiele liefert die Biologie: Es gibt – zumindest meines Wissens – bis heute weder eine allgemein akzeptierte Theorie des Todes noch eine ebensolche Theorie der Entstehung des Lebens: Wir wissen weder, warum wir sterben müssen, noch wie sich der Sprung von der Kohlenwasserstoffchemie zum Leben vollzog. Zwar gibt es dazu zahlreiche Hypothesen, doch keine, die empirisch belegt sind und im Wissenschaftsbetrieb allgemein anerkannt werden. Aber auch hier erscheint es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass eines Tages ein besseres Verständnis plausible Erklärungen liefert.
Gleiches gilt auch für die Mathematik: Hier gibt es verschiedene Problemsammlungen, wie die des Clay Institute, das zu Beginn des neuen Jahrtausends die aus Sicht des Institutes sieben wichtigsten ungelösten mathematischen Probleme zusammenstellte und für deren Lösung jeweils ein Preisgeld von einer Millionen Doller auslobte. Bis heute gelang es immerhin einem Mathematiker, Grigori Perelman, eines dieser Probleme, die Poincaré-Vermutung zu beweisen.
Grundsätzliche Erkenntnisgrenzen
Bei dieser vierten Kategorie helfen keine technischen Apparate, mit denen wir die Limitationen unserer Sinnesorgane überwinden können. Vielmehr stoßen wir hier an ganz grundsätzliche Grenzen. Ich würde dabei zwei Fälle unterscheiden:
Fehlender Determinismus
Der Franzose Pierre-Simon Laplace ersann 1814 basierend auf dem Weltbild der Newtonschen Mechanik einen fiktiven, allwissenden Weltgeist, der sämtliche Kausalitäten des Universums in Form von Funktionsgleichungen erfassen und simultan verarbeiten kann. Wären alle diese kausalen Beziehungen bekannt, ließe sich theoretisch damit die Bewegung aller Materie und damit die Zukunft der Welt bis an ihr Ende vorausberechnen.
Die Quantenphysik kam aber in den 1920er Jahren zu der Erkenntnis, dass dem weder theoretisch noch praktisch so ist. Der Laplacesche Dämon – wir würden ihn heute als „Supercomputer“ bezeichnen – regiert nicht die Welt, denn diese ist auf ihrer untersten Ebene von Natur aus unbestimmt und diffus. In der klassischen Mechanik ist es möglich, den Ort und Impuls eines bewegten Objekts gleichzeitig zu bestimmen: Fährt ein Auto in eine Radarfalle, lässt sich genau sagen, wo das geschah und welche Geschwindigkeit und Masse das Fahrzeug hatte. In der Quantenwelt aber gilt dies nicht mehr. Der Wellencharakter der kleinsten Teilchen macht eine exakte Orts- und Impulsbestimmung der Teilchen unmöglich. Werner Heisenberg fasste diese Erkenntnis 1927 in einer einfachen Formel zusammen, der Unschärferelation:
Dabei steht delta x für die Ungenauigkeit der Ortsbestimmung, delta p für die Ungenauigkeit der Impulsmessung. Will man den Ort genauer bestimmen, indem man die Unschärfe delta x verringert, ergibt sich durch die multiplikative Verknüpfung unweigerlich eine Einbuße der Genauigkeit der Impulsmessung delta p. Je genauer wir also bei der einen Größe hinschauen, umso weniger können wir über die andere wissen.
Prinzipielle Unmöglichkeit
Was war vor dem Urknall? Was geschieht in einem schwarzen Loch? In was hinein expandiert das Universum? All diese Fragen werden wir nie beantworten können, weil unsere Erkenntnismöglichkeit hier an ganz prinzipielle Ränder stößt. Zeit, Raum und Materie, die Denkkategorien, in denen wir uns bewegen können, sind erst im Moment des Urknalls entstanden. Ob es vor dem Big Bang eine andere Physik gab und wie diese konstruiert war, können wir nicht wissen; wir sind in unserer heutigen Welt und ihren heutigen Regeln gefangen. Die extreme Gravitation schwarzer Löcher verschluckt sogar das Licht und beraubt uns damit jeder Möglichkeit, jemals was auch immer aus dem Innern des Lochs zu berichten. Um zu verstehen in was hinein das Universum expandiert, müssten wir in der Lage sein unsere Welt von außen zu betrachten – doch wir sind zwangsläufig selbst Teil dieses Systems.
Ein System aber kann sich nicht vollständig selbst erklären. Das war die entscheidende Erkenntnis des Mathematikers Kurt Gödel, der 1931 den Nachweis erbrachte, dass es mathematische Aussagen gibt, die zwar wahr sind, die aber dennoch nicht bewiesen werden können. Gödel zeigte, dass die Widerspruchsfreiheit eines axiomatisierten formalen Systems nicht innerhalb des Systems selbst beweisbar ist. Sowenig, wie ein Gehirn sich selbst vollständig erforschen und eine Sprache sich selbst vollständig erklären kann, kann auch die Mathematik allein nicht die Widerspruchsfreiheit der Mathematik beweisen. Dies hat nichts mit dem Unvermögen der Akteure zu tun, es ist vielmehr grundsätzlich nicht möglich: Um ein System vollständig zu beschreiben, muss man es von außen betrachten können. Die Mathematik aber kann sich nicht nur mit Hilfe der Mathematik erklären und auch führende Neurobiologen sind der festen Überzeugung, dass aus diesem Grund unser Gehirn niemals in der Lage sein wird, sich selbst in seiner Gesamtheit vollständig zu analysieren.
Dort übrigens, wo wir an prinzipielle Grenzen, an die Ränder unserer Erkenntnis stoßen, bleibt Raum für Glauben, ein dimensionsloses Terrain, das die Wissenschaft nie wird besetzen können. Dieser Glaube kann religiöser Natur sein oder auch sehr profan: So beruht das ganze Gebäude der Mathematik mit Vermutung, Beweis und Satz letztlich auf Axiomen, simplen Aussagen, die so einleuchtend erscheinen, dass sie ganz offenbar keines Beweises bedürfen. Damit basiert aber auch die vermeintlich vollkommenste aller Wissenschaften letztlich auf einem unbewiesen Glaubens-Fundament.
Wer Millionär werden möchte:
Gemäß metaphysischen Realismus gibt es nur eine Theorie, die exakt mit der Realität im Universum übereinstimmt. Die Definitionen dieser Theorie müssen mit der Physik auf der Wirkebene der Natur übereinstimmen. Wissenschaftliche Theorien definieren die Physik auf der Beschreibungsebene der Natur. Und die Definitionen sind somit Einschränkungen bei der Verwendung von Mathematik, Sprache, Physik. Durch die Einschränkungen kann es keine vollständigen widerspruchsfreien wissenschaftlichen Theorien geben, weil es immer eine Differenz zur Realität im Universum gibt. Auf der Wirkebene der Natur gibt es keine physikalischen Rätsel