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Welche Rolle spielt der Zufall in der Welt?

Autorenbild: Jens BottJens Bott

 

Welche Rolle spielt der Zufall in der Welt?

Der Zufall spielt bei der Erklärung, warum die Welt so ist, wie sie ist, eine ganz besondere Rolle. Er begegnet uns in der Zahlentheorie, der Statistik, der Rechtsprechung, der Quantenphysik, der Thermodynamik, der Evolutionstheorie und er kommt in Form von Katastrophen, schwarzen Schwänen, Glück, Pech, Risiken oder Lottogewinnen daher. Was ist also der Zufall? Gibt es hinter alldem einen gemeinsamen Nenner, etwas, das all diese Phänomene verbindet?


Barockes Bild von drei Kartenspielern: Zwei von dreien mogeln
Regiert der Zufall die Welt oder ist alles vorherbestimmt?

Gibt es überhaupt einen Zufall?

Die Möglichkeit, Naturgesetze mathematisch exakt darstellen zu können – wie dies insbesondere Isaac Newton erstmalig mit seinen Bewegungsgesetzen und dem Gravitationsgesetz tat – leitete einen Epochenwandel ein. Denn mit dem Wissen um deterministische Zusammenhänge ließen sich nun künftige Ereignisse verlässlich prognostizieren. Der naturphilosophische Fortschritt befeuerte eine Euphorie, die Hoffnung, die Welt mithilfe der Mathematik vollständig beschreiben zu können. Der Franzose Pierre-Simon Laplace spann diesen Gedanken radikal weiter.


Portrait von Laplace mit Orden und Allonge-Perücke
Übervater des Determinismus: Pierre-Simon Laplace

1814 ersann er einen fiktiven, allwissenden Weltgeist, der sämtliche Kausalitäten des Universums in Form von Funktionsgleichungen erfassen und simultan verarbeiten kann. Rein theoretisch ließ sich damit die Bewegung aller Materie und damit die Zukunft der Welt bis an ihr Ende vorausberechnen. Der Laplacesche Dämon – wir würden ihn heute als einen „Supercomputer“ bezeichnen – wurde zum Leitmotiv eines deterministischen Weltbilds, das neben den Naturphilosophen bald auch das Denken von Militärs, Sozialutopisten und Ökonomen bestimmen würde: Warum sollte nicht auch menschliches Handeln mathematisch beschreibbar und somit prinzipiell berechenbar sein? In diesem Sinne gab es eigentlich keinen Zufall. Das, was wir als überraschende, unvorhersehbare Ereignisse wahrnehmen, beruhte lediglich auf Unkenntnis der zugrundeliegenden Zusammenhänge. Kenntnisse dieser Zusammenhänge verhießen Macht.

 

Der Zufall in der antiken Philosophie

Bis in die Antike hinein war für die Menschen alles, was geschah, der Wille von Dämonen, Geistern oder Göttern – einen Zufall gab es nicht. Die Zukunft war vorherbestimmt; Seher wie die römischen Auguren und Haruspices konnten künftige Ereignisse aus dem Flug der Vögel oder aus der Leber von Opfertieren lesen. Einmal mehr waren es die Griechen, die genauer hinsahen und sich als Erste etwas differenzierter mit dem Phänomen Zufall auseinandersetzten.


Stich aus dem 19. Jh., der Auguren  bei der Beobachtung von Vögeln zeigt.
Lasen die Zukunft aus dem Flug der Vögel oder gerne auch aus der Leber von Opfertieren: römische Seher

Bereits lange vor Laplace war Demokrit davon überzeugt, dass das, was wir als Zufall wahrnehmen, lediglich menschliches Unvermögen sei, die wahre Ordnung der Welt erkennen zu können. Aristoteles unterschied drei Arten von Ereignissen: sichere, wahrscheinliche und unerkennbare.


Für die philosophische Schule der Pythagoreer war alles Zahl. Natürliche Zahlen und Zahlenverhältnisse waren für sie Ausdruck einer göttlichen Harmonie, die nichts der Willkür überlies. Wir können daher kaum ihre Verzweiflung ermessen, als sie bei ihren Erkundungen auf Zahlen stießen, die sich nicht als Verhältnis natürlicher Zahlen darstellen ließen, wie dies – "ausgerechnet" – beim Satz des Pythagoras der Fall ist: Wenden wir a^2 + b^2 = c^2 auf ein rechtwinkliges Dreieck an, bei dem die Seiten a und b jeweils die Länge von 1 haben, ist die längste Seite c, die Hypotenuse, dann definitionsgemäß die Wurzel aus 2 (= 1,414213…). Diese Zahl lässt sich bis in die Unendlichkeit nachverfolgen, ohne dass jemals ein Muster erkennbar würde, die jeweils nächste Stelle ist vollkommen dem Zufall überlassen.


Kopf einer Statue von Aristoteles, mit Vollbart
Beschäftigte sich so ziemlich mit Allem - einschließlich des Zufalls: Aristoteles

Am Ende der Antike sorgte jedoch vor allem die Prädestinationslehre des Kirchenvaters Augustinus dafür, dass der Determinismus weiterhin das bestimmende Weltbild blieb: Der allwissende Gott kennt den Lauf der Dinge von Anfang an; da er weiß, wie sich jeder einzelne Mensch auf seinem Lebensweg zwischen Gut und Böse entscheiden wird, ist auch das Seelenheil bei der Geburt bereits unweigerlich vorbestimmt.










Die Macht des Determinismus

Der Gedanke, dass das Schicksal der Menschheit von vornherein festgelegt sei, hat auch noch lange nach Augustinus einen zentralen Platz in der Philosophiegeschichte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah den Lauf der Welt als einen dialektischen Prozess, der durch die Entfaltung eines Weltgeists vorangetrieben wird. Dieser Prozess ist von der Idee der Freiheit geleitet, die sich im Laufe der Zeit immer bewusster und konkreter verwirklicht. Konflikte und Widersprüche sind zentrale Triebkräfte der Geschichte, die durch eine Synthese überwunden werden und dadurch eine höhere Entwicklungsstufe entstehen lassen. Für Hegel ist die Geschichte ein rationaler Prozess, der auf das Ziel der Selbstverwirklichung des Geistes in Freiheit zusteuert.


Ikonische Darstellung es Kirchenvaters aus dem Mittelalter: Er schreibt in ein Buch während ihm ein Taube - die symbolisiert den Heiligen Geist -  auf seiner rechten Schulter sitzt
Gab den Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts die Spur vor: Kirchenvater Augustinus

Sein Schüler Karl Marx betrachtete die Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen, die durch ökonomische Strukturen und Produktionsverhältnisse bestimmt werden. Der geschichtliche Fortschritt wird durch den Kampf um Produktionsmittel und gesellschaftliche Dominanz angetrieben, wie z. B. zwischen Kapitalisten und Proletariat in der Phase des Kapitalismus. Dieser Konflikt führt letztlich zu einer revolutionären Umwälzung und zur Überwindung des Kapitalismus. Der Endpunkt der historischen Entwicklung ist die klassenlose, kommunistische Gesellschaft.


Sowohl Hegel als auch Marx sehen damit die Geschichte als vorherbestimmt. Ihr Verlauf ist nicht zufällig. Auch wenn ihre Betrachtungsperspektive eine ganz andere ist, reihen sie sich damit in die Denkwelt eines Demokrit, Augustinus und Laplace ein.

 

Der Zufall wird berechenbar

Zu einer ganz neuen Entwicklung kam es Mitte des 17. Jahrhunderts als die Franzosen Blaise Pascal und Pierre de Fermat den Ausgang von Glücksspielen mathematisch analysierten. Der Briefwechsel, den die beiden über dieses Thema führten, gilt heute als die Geburtsstunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung.


Portrait von Pascal, Ende dse 17. Jh. in  milden Brauntönen
Monsieur Blaise Pascal

Die Wahrscheinlichkeitsmathematiker erkannten, dass Einzelereignisse – etwa die Augenzahlen beim Würfeln – unvorhersehbar waren, dass sich bei häufigen Wiederholung jedoch Verteilungsmuster fanden, die sich mathematisch beschreiben ließen. Risiken wurden damit berechenbar – eine entscheidende Voraussetzung etwa für den Aufbau von Versicherungen. Ganz offenbar war, wie Goethe es später formulierte, „das Gewebe dieser Welt [.] aus Notwendigkeit und Zufall gebildet“.[i]

 





Die Quantenmechanik gibt eine definitive Antwort

Damit war aber immer noch nicht klar, ob das, was uns Menschen als unvorhersehbar erscheint, grundsätzlich einem echten Zufall überlassen ist oder uns nur deshalb als zufällig vorkommt, weil wir die Zusammenhänge, die das Resultat bestimmen, nicht verstehen.


Die vor 100 Jahren entwickelte Quantenphysik gab endlich eine Antwort auf diese Frage: Die materielle, deterministische Welt Newtons und Laplaces entsteht durch die Aggregation zahlloser Atome. Auf der Ebene der einzelnen atomaren Bausteine aber ist die Welt in ihrem tiefsten Inneren unbestimmt. Wo sich ein Elementarteilchen, wie ein Elektron zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet, können wir nicht wissen, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeiten dafür berechnen, im welchem Raumbereich es sich möglicherweise gerade aufhält. Es gibt ihn also, den „echten“ Zufall.


Schwarzweiss-Photographie des Physikers aus den 1920er Jahren
Bewies, dass es einen "echten Zufall" gibt: Werner Heisenberg

Die physikalische Disziplin der Thermodynamik etwa beschreibt, wie wärmebewegte Atome völlig willkürlich aneinanderstoßen und wie aus dieser Unordnung eine gesichtslose Gleichverteilung entsteht – letztlich, weil diese Verteilung die statistisch wahrscheinlichste Anordnung ist. In der Biologie sorgen quantenphysikalische Vorgänge bei den Replikationsprozessen der DNA dafür, dass Mutationen und Variationen entstehen, die das Lebewesen rein zufällig mit neuen Eigenschaften ausstatten. Ob diese Eigenschaften im biologischen Sinne einen Vor- oder Nachteil darstellen, ist wiederum völlig dem Zufall überlassen; es hängt davon ab, auf welche komplexen ökologischen Bedingungen der belebten und unbelebten Natur, die neuen Varianten jeweils treffen.


Der „echte“ Zufall ist somit eine Grundkonstante der Natur. Die Welt, in der wir leben, könnte ohne ihn nicht existieren.  

 


Wer mehr wissen will:

Lamua, Antonio (2012): „Das Buch der Unendlichkeit“, Librero.

Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.

Heisenberg, Werner (2000): Physik und Philosophie. Hirzel.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1996): „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“, Erster Teil, Meiner.

Goethe, Johann Wolfgang von (1795): „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Projekt Gutenberg-DE.


Anmerkungen:

[i] Goethe (1795), 17. Kapitel.

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