Weltverständnis durch Theorien?
Die Menschheit hat im Laufe ihrer Geschichte eine Vielzahl von Theorien entwickelt, die uns dabei helfen, die Welt um uns herum besser zu verstehen. Diese Theorien betreffen alle Bereiche unseres Lebens und reichen von den physikalischen Gesetzen, die das Universum bestimmen, bis hin zu den komplexen sozialen und psychologischen Mechanismen, die unser menschliches Verhalten prägen. Welches sind die (meiner Meinung nach) wichtigsten Theorien, die uns helfen, die Welt möglichst gut zu erfassen und begründet zu beschreiben? Und welche Theorien haben, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch sind unseren Blick auf die Welt in der Vergangenheit geprägt?
Hierbei gibt es, denke ich, zwei grundsätzliche Kategorien:
Naturwissenschaftliche Theorien: Sie basieren auf empirischen Daten, also messen, zählen, wiegen. Naturwissenschaftliche Theorien beschreiben lediglich, wie etwas ist – oder zumindest gemäß den gemachten Beobachtungen zu sein scheint. Die herausragenden Theorien sind hier Newtons Mechanik, Einsteins Relativitätstheorie, die Quantenphysik sowie Darwins Evolutionstheorie.
Geistes- und Sozialwissenschaftliche Theorien: Auch hier können „harte“ quantitative Methoden zum Einsatz kommen, doch es geht dabei immer auch um Menschenbilder, Annahmen über unsere Natur als bewusstes, denkendes Wesen. Naturgemäß spielen daher auch Meinungen, Glaube und Überzeugungen eine zentrale Rolle. Entsprechend groß ist die Anzahl von Theorien und Kontroversen. Meine Auswahl ist daher zwangsläufig limitiert und subjektiv.
Die erwähnten Theorien werden hier allesamt nur sehr kurz angerissen. Sie werden entweder bereits erschienen Blogs (siehe links) oder denen, die noch erscheinen sollen, ausführlicher betrachtet.
Naturwissenschaftliche Theorien – Wie funktioniert unsere Umwelt?
Klassische Mechanik: Isaac Newtons umfassende Beschreibung des Universums
Isaac Newton kommt das Verdienst zu, wichtige Beobachtungen anderer Naturphilosophen, insbesondere Kepler, Galilei und Descartes vereint zu haben. In seiner "Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica" (1687) schuf er ein umfassendes Bild der Mechanik der Welt. Seine drei Bewegungsgesetze und das Gravitationsgesetz bilden bis heute das Fundament der klassischen Physik, in der er das Wirken unsichtbarer Kräfte mathematisch beschrieb und nachwies, dass diese Kräfte sowohl die Vorgänge auf der Erde als auch die gesamte sichtbare Himmelsmechanik bestimmen.
Zur klassischen Physik zählt auch die Thermodynamik, die Mitte des 18. Jahrhunderts die Erkenntnis brachte, dass Energie stets nur verwandelt, nie aber im eigentlichen Sinne verbraucht, also vernichtet werden kann und dass in einem geschlossen System die Entropie – eine Messgröße für Unordnung oder Zufälligkeit – stets nur zunimmt. Dies hat tiefgreifende Konsequenzen für unser Verständnis von Zeit, da es ihr nur eine Richtung für ihren Verlauf vorgibt und deutlich macht, dass alle geordneten Systeme früher oder später zerfallen müssen und unsere Welt langfristig in einen unterschieds- zeit- und informationslosen Zustand völliger Gleichförmigkeit führt.
Newtons umfassende Weltsicht war über 200 Jahre lang das unerschütterliche Fundament der Naturphilosophie – bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts klar wurde, dass dieses Fundament seinem Wesen nach falsch war.
Die Relativitätstheorie: Albert Einstein revolutioniert das Verständnis von Raum und Zeit
Albert Einsteins Relativitätstheorie, die 1905 in ihrer speziellen und 1915 in ihrer allgemeinen Form erschien, revolutionierte das Verständnis von Raum und Zeit. Während Newtons Theorien davon ausgingen, dass Raum und Zeit absolut sind – sie existieren unabhängig vom Beobachter und stellen gleichsam nur die „Bühne“ dar auf der sich die Physik abspielt –, zeigte Einstein in seiner speziellen Relativitätstheorie, dass diese beiden Größen relativ sind. Das bedeutet unter anderem: Je schneller sich ein Objekt bewegt, desto langsamer vergeht die Zeit aus der Sicht eines ruhenden Beobachters. Das führte letztlich zu der Erkenntnis, dass Energie und Masse lediglich zwei Seiten derselben Medaille sind: E = mc^2.
Die allgemeine Relativitätstheorie dehnt die Betrachtung auf Systeme aus, die sich nicht gleichförmig bewegen, sondern sich beschleunigen. Auch die Gravitation verursacht Beschleunigung. Das führte Einstein zu der Erkenntnis, dass Schwerkraft letztlich nichts anderes ist als Raumzeitkrümmung, erzeugt durch die Anwesenheit von Masse und Energie. Dies erklärt beispielsweise, warum das Licht von Sternen durch die Schwerkraft von Himmelskörpern abgelenkt oder sogar völlig verschluckt wird. Damit begründete Einstein nicht nur die moderne Astrophysik, sondern schuf auch die Voraussetzung moderner Technologien wie der Satellitennavigation.
Die Quantenphysiker entdecken die Welt der kleinsten Teilchen
Newton beschrieb die für uns erfahrbaren Phänomene der Welt – für die meisten Fälle war dies hinreichend genau. Einstein betrachte das Extrem der gigantischen, kosmischen Maßstäbe, der unfassbarer Geschwindigkeiten und Massekonzentrationen. Am anderen Ende der Streckbank der Extreme tat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiten von Physikern wie Max Planck, Werner Heisenberg und Niels Bohr eine völlig andere Welt auf, eine Welt, die sich unserer Intuition vollkommen entzieht. Eine der zentralen Erkenntnisse der Quantenphysik ist die Unbestimmtheitsrelation von Heisenberg, die besagt, dass man nicht gleichzeitig den genauen Ort und die genaue Geschwindigkeit subatomarer Teilchen messen kann. Dies steht im Widerspruch zur klassischen Mechanik, in der sich alles mit beliebiger Genauigkeit messen und vorausberechnen lässt. Ebenso wie die Relativitätstheorie hat auch die Quantenphysik nicht nur unser bisheriges Weltbild erschüttert, sondern auch zur Entwicklung zahlreicher Technologien geführt, von Lasern bis zu Computern.
Charles Darwin: Die Evolutionstheorie entthront den Menschen
Darwins Evolutionstheorie, die er in seinem Werk "On the Origin of Species" (1859) formulierte, hat das Verständnis von Leben und dessen Entwicklung auf der Erde revolutioniert. Die zentrale Idee Darwins ist die natürliche Selektion: Individuen einer Art, die besser an ihre Umwelt angepasst sind, haben eine höhere Überlebenschance und können mehr Nachkommen zeugen. Über viele Generationen hinweg führt dieser Selektionsprozess zu einer allmählichen Veränderung von Arten aus der schließlich neue Arten hervorgehen.
Darwin widerlegte die damals vorherrschende Vorstellung einer einmaligen Schöpfung aller Lebewesen die seitdem Anbeginn völlig statisch fortexistieren. Damit ist aber auch der Mensch nicht mehr das Produkt eines besonderen, göttlichen Eingriffs, sondern das Ergebnis eines langen, natürlichen Prozesses: der Mensch war nun nicht mehr die Krone der Schöpfung und die Menschenaffen waren plötzlich seine Cousins.
Wie in der Thermodynamik und der Quantenphysik spielt auch in der Evolutionstheorie der Zufall eine zentrale Rolle und damit die weitgreifende Erkenntnis, dass unsere Welt im Kern nicht, wie man lange glaubte, deterministisch bestimmt ist.
Geistes- und Sozialwissenschaften: Wie funktionieren wir?
Dünnes Eis
Meine Auswahl ist, wie erwähnt, zwangsläufig subjektiv und unvollständig. Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Theorien vorstellen, denen ich entweder eine hohe „Erklärmacht“ zubilligen würde oder die historisch eine bedeutende Rolle gespielt haben, weil sie das Leben und Verhalten zahlreicher Menschen bestimmten oder immer noch bestimmen. Jenseits der Naturwissenschaften geht es nicht mehr nur um reine Fakten, sondern auch Interpretationen, die auf unterschiedlichen Weltanschauungen basieren. Also nicht allein um die Frage, wie etwas ist, sondern auch wie etwas nach Auffassung des Urhebers der Theorie sein soll.
Sigmund Freud und die Entdeckung des „Ichs“
Ein naturwissenschaftlich fundiertes Modell, das erklärt, wie der menschliche Geist funktioniert gibt es schlicht und ergreifend nicht – und wird es möglicherweise auch nie geben.
Eine historisch bedeutsame Rolle kommt Sigmund Freud zu. Freud postulierte, dass menschliches Verhalten stark von unbewussten Trieben beeinflusst wird, insbesondere von sexuellen und aggressiven Impulsen. Gemäß Freud ist das menschliche Bewusstsein nur ein kleiner Teil eines viel größeren unbewussten Prozesses, der unser Handeln bestimmt.
Im Gegensatz dazu stellte der Behaviorismus, vertreten durch Psychologen wie B.F. Skinner, die These auf, dass das menschliche Verhalten vor allem durch äußere Reize und Lernen beeinflusst wird, und nicht durch verborgene psychische Prozesse.
Beide der sich heftig widersprechenden Menschenbilder gelten heute in dieser jeweiligen Radikalität als überholt. Menschliches Verhalten scheint das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus unbewussten Trieben, Umweltfaktoren und kognitiven Prozessen zu sei. Doch kommt ihnen das historische Verdienst zu, mit dem Beziehen diametral unterschiedlicher Positionen die Bandbreite der Einflussfaktoren menschlichen Handelns ausgelotet zu haben.
Die politische Philosophie: John Locke, Jean-Jacques Rousseau und die Demokratie
In ihrer Auswirkung auf die Menschheitsgeschichte nicht zu unterschätzen ist die politische Philosophie. John Locke, ein führender Denker der Aufklärung, entwickelte eine Theorie der natürlichen Rechte, die die Grundlage für moderne Demokratien bildet. Locke vertrat die Auffassung, dass jeder Mensch bestimmte unveräußerliche Rechte besitzt, insbesondere das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum. Diese Ideen beeinflussten die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten.
Jean-Jacques Rousseau hingegen kritisierte die Vorstellung von Eigentum und betonte, dass die Gesellschaft den Menschen in seiner natürlichen Freiheit einschränkt. In seinem Werk "Vom Gesellschaftsvertrag" argumentierte er, dass eine gerechte Gesellschaft auf der Grundlage des "allgemeinen Willens" der Menschen aufgebaut sein sollte. Diese Ideen hatten tiefgreifende Auswirkungen auf den Verlauf der Französischen Revolution und die Entwicklung moderner Demokratien.
Sozial und ökonomisch fundierte Gesellschaftstheorien: Karl Marx, Max Weber und Michel Foucault
Der Mensch existiert nicht nur als Individuum, sondern ist als soziales Tier in Gemeinschaften und komplexe Gesellschaften eingebettet. In den Sozialwissenschaften gibt es verschiedene Theorien, die versuchen, die Gesetze des Zusammenlebens zu erklären. Eine der historisch einflussreichsten Theorien, die die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens beschreiben wollen, ist die von Karl Marx entwickelte Theorie.
Marx sah – beeinflusst von der Philosophie Hegels – die Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen, die von einer Urgesellschaft über die Entwicklungsstadien Feudalismus, Kapitalismus, Diktatur des Proletariats hin zu einer klassenlosen Gesellschaft führt, die auf einem höheren Niveau des Zusammenlebens die (vermeintliche) Harmonie der Urgesellschaft neu entfaltet.
Max Weber, der als einer der wichtigsten Mitbegründer der Soziologie gilt, machte deutlich, dass soziale Handlungen nicht nur durch ökonomische Faktoren, sondern auch durch kulturelle und religiöse Ideen geprägt sind. Weber prägte die Idee der "Protestantischen Ethik" als einem wesentlichen Faktor für die Entstehung des Kapitalismus und machte deutlich, dass gesellschaftliche Entwicklungen immer auch von ideellen Faktoren abhängen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand mit dem Postmodernismus eine kritische Strömung, die alle bisherigen großen Erzählungen in Frage stellte. Denker wie der Soziologe und Philosoph Michel Foucault hinterfragten die traditionellen Vorstellungen von Wahrheit, Wissen und Macht und betonten, dass alle Theorien und Erkenntnisse kulturell und historisch bedingt sind. Für Foucault wird Macht nicht nur durch den Staat ausgeübt, sondern ist ein komplexes, sehr subtiles System, das die gesamte Gesellschaft auf vielfältigen Ebenen durchzieht. Er beschreibt, wie die "Mikrophysik der Macht" in kleinen, alltäglichen und unscheinbaren Handlungen wirkt – sei es in der Familie, in Schulen, im Gesundheitswesen oder in der Gesellschaft im Allgemeinen. Auch wenn dies zu zahlreichen Verwerfungen führt, so ist dieses Machtgefüge ein Mechanismus der nicht nur repressiv, sondern auch produktiv wirkt.
Ein wichtiger Schlüssel zur Macht, so Foucault, ist Wissen – ganz unabhängig davon, ob die Gesellschaft autoritär oder demokratisch verfasst ist. Wissen dient nicht nur zur Erhellung der Welt, sondern wird auch dazu genutzt, soziale Ordnungen zu schaffen und zu legitimieren.
Welchen Beitrag können Theorien zum Weltverständnis leisten?
Theorien sind letztlich begründbare Annahmen über die Welt. Sie helfen uns nicht nur, die Welt zu erklären, sondern auch, unsere Rolle in ihr zu erkennen.
Die heute vorherrschenden Theorien beschreiben für die Naturwissenschaften zahlreiche Zusammenhänge und dies mittlerweile überaus genau und umfassend. Ein „Gütesiegel“ für eine Theorie ist ihre Fähigkeit, künftige Ereignisse prognostizieren zu können. Das können aktuelle physikalische Theorien in sehr hohem Maße. Dies gilt wiederum nicht für die Evolutionstheorie, die die biologischen Phänomene unserer Welt nur in der Rückschau erklären kann – bei der Fülle der Einflussfaktoren und ihren komplexen Wechselwirkungen sind Prognosen einer künftigen Weiterentwicklung der Arten schlichtweg utopisch.
Einige ganz entscheidende Fragen aus der Domäne der Physik sind allerdings immer noch nicht verstanden; so gibt es bis heute trotz intensiver Suche keine umfassende Theorie, die alle Aussagen der allgemeinen Relativitätstheorie widerspruchsfrei mit den Erkenntnissen der Quantenmechanik vereinigt. Ein anderes Beispiel ist die Dunkle Materie, auf deren Existenz einiges hindeutet, die aber bis heute noch nicht nachgewiesen werden konnte.
Die Vielzahl der geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien vermittelt uns einen Einblick in die Komplexität menschlicher Gedanken, Handlungen und Gesellschaftsstrukturen, in denen Interpretationen, Annahmen über die Natur des Menschen, Wünsche, kognitive Verzerrungen, Wertvorstellungen und Glaube eine wichtige Rolle spielen können aus denen sich Komplexitäten und Wechselwirkungen ergeben, die Vorhersagen individuellen und kollektiven Verhaltens sehr schwierig oder gar unmöglich machen – eine Parallele zur Biologie, die wenig überrascht, denn auch menschliches Verhalten und die kulturelle Evolution sind aus der biologischen Entwicklung hervorgegangen.
Wer mehr wissen will:
Newton, Isaac (1686): „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, University of Cambridge Digital Library.
Locke John (1974) „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, Reclam.
Marx, Karl (1979): „Das Kapital“, Dietz.
Weber, Max (2017): „Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus“, Reclam.
Foucault, Michel (1994): „Überwachen und Strafen“, Suhrkamp
Comments