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AutorenbildJens Bott

Wie die Welt im Kopf entsteht (Teil 1)

Fortsetzung von: Das Leib-Seele-Problem.


Das Gehirn: Ergebnis einer langen Evolution

Wie bei Skelett und Sauerstoffversorgung, gingen Wirbellose und Wirbeltiere auch bei der Architektur des Gehirns unterschiedliche Wege. Die Bauweise der Gehirne wirbelloser Tiere ist dezentral; das Nervensystem des Oktopus hat damit kognitive Fähigkeiten entwickelt, die immerhin mit denen von Hunden vergleichbar sind. Bei den Wirbeltieren ist das Gehirn hingegen zentral angelegt. Im Laufe der Evolution entstand zunächst ein Hirnstamm der alle unbewussten vegetativen Tätigkeiten wie Herzschlag, Atmung, Stoffwechsel und grundlegende Reflexe steuert. Darüber bildete sich als nächstes das Kleinhirn, das die Bewegungsabläufe koordiniert, gefolgt von Zwischenhirn und Großhirn, in denen Umweltinformationen bewertet werden. Während der Entwicklung, die von Fischen über Amphibien und Reptilien zu Vögeln und Säugetieren führte, wuchsen auch Klein-, Zwischen- und Großhirn stetig mit.[i] Der evolutionsgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde, der Neokortex, ist ein Privileg der Säugetiere. Diese, beim Menschen nur etwa fünf Millimeter dicke Schicht, verfügt über eine sehr hohe Neuronendichte und ist insbesondere bei Primaten stark zerfurcht, ein Trick der Natur, mit dem sich die Oberfläche der Rinde deutlich vergrößern lässt.


Zeichnung eines menschlichen Kopfs von der Seite; Bestimmte Fähigkeiten sind bestimmten Arealen im Gehirn zugeordnet
So stellte man sich die Sache im Jahre 1894 vor

 

Der Mensch hat ein typisches Säugetiergehirn

Das menschliche Gehirn ist ein in jeder Hinsicht typisches Säugetiergehirn, dessen Aufbau sich von dem anderer Primaten praktisch nicht unterscheidet. Bewusstsein und Intelligenz haben also keine erkennbare Anatomie. Denkprozesse, das heißt die Fähigkeit, Situationen anhand von Erinnerungen bewerten zu können, lassen sich bei vielen Tieren beobachten. Der Mensch ist lediglich die Spezies, bei der die Bewusstwerdung dieser Prozesse am stärksten ausgeprägt ist. Dies ist seine spezifische Überlebensstrategie, so wie Mäuse auf hohe Reproduktionsraten, Wale auf effiziente Lungen und Elefanten auf das Multifunktionswerkzeug „Rüssel“ wetten.

 

Ein sehr gut bewachtes Objekt

Das Gehirn ist unser teuerstes Arbeitsmittel. Obwohl es nur 2% unseres Körpergewichts ausmacht, beansprucht es über 20% der verfügbaren Energie. Da es für uns so wichtig ist, behüten wir es sorgsam. Bei Versorgungsengpässen wird es vor allen anderen Organen mit Sauerstoff und Zucker bedacht. Ein biologischer Schlagbaum, die Blut-Hirn-Schranke, regelt den Zutritt und hält Bakterien, Gifte und unerwünschte Botenstoffe fern. Die Schädelhöhle, ein massiver helmartiger Knochen, die strapazierfähige Hirnhaut und die stoßdämpfende Gehirnflüssigkeit stellen den mechanischen Schutz sicher.

 

Querschnittszeichnung durch ein menschliches Gehirn, das den Ort der verschiedenen Gehirnareale anzeigt
Das menschliche Gehirn

 

Das komplexeste uns bekannte Objekt im Universum

Dieses gut bewachte Objekt ist die höchste uns bekannte Form von Ordnung im Universum: 100 Milliarden Neuronen, von denen jedes einzelne Neuron mit bis zu 10.000 anderen verknüpft sein kann, bilden ein Geflecht von schier unendlicher Komplexität. In den äußeren Hirnschichten nimmt die Dichte jener Neuronen zu, die nicht mit Umweltschnittstellen oder den internen Organsystemen in Verbindung stehen, sondern vor allem mit anderen Großhirnneuronen verknüpft sind. Diese Nervenzellen sprechen also hauptsächlich mit sich selbst. Allerdings spricht nicht jeder mit jedem; etwa 20% aller Synapsen geben keine Signale weiter, sondern unterbinden sie vielmehr. Täten sie es nicht, würde infolge der hohen Vernetzung jedes Signal nach wenigen Umschaltungen wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkommen. Die hemmenden Synapsen moderieren diese Kreisläufe und bewahren das Gehirn so vor Kurzschlüssen. Wird ihre Funktion gestört, kann es zu Erkrankungen wie Epilepsie kommen.

 

„Neurons that fire together, wire together“

Die Synapsenmechanik wurde Ende der 1940er Jahre durch den kanadischen Neuropsychologen Donald Hebb entdeckt. Er hatte beobachtet, dass sich Nervenzellen, die gleichzeitig aktiv sind, miteinander verbinden, eine Erkenntnis, die später mit dem Schlagwort: „Neurons that fire together, wire together“ zusammengefasst wurde. Die intensive, wiederholte Erregung von Synapsen durch Aktionspotentiale führt dazu, dass sich Verbindungen bilden und weiter verstärken. Wie Muskeln wachsen auch neuronale Verknüpfungen durch wiederholtes Training. Die Neuronen arbeiten dabei allein mit den Freiheitsgraden „aktivierend“ oder „hemmend“, „stark“ oder „schwach“, „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“. 


Ein freundlich lächelnder alter Mann im Anzug mit einer großen roten Fliege
Erforschte das Gedächtnis: Eric Kandel

Die Entdeckung der neuronalen Plastizität durch Hebb beflügelte die Hirnforschung: Welchen Zweck hatte die Natur dieser Formbarkeit zugedacht? Der spätere Nobelpreisträger Eric Kandel war dieser Frage seit den 1960er Jahren auf der Spur. Anhand von Aplysia, einer primitiven Meereschnecke, die lediglich über rund 20.000 (allerdings sehr große und somit gut zu beobachtende) Nervenzellen verfügt, fand Kandel heraus, dass Lernen und Vergessen aus physiologischer Sicht nichts anderes ist, als die Veränderung der Effizienz, mit der Informationen an den Synapsen übertragen werden. Ob Schnecke oder Mensch: Neuronale Plastizität ermöglicht es, Ereignisse, die Nervenzellen erregen, im Gedächtnis zu speichern. Mit dem in der Vergangenheit Erlernten lassen sich dann die Probleme der Gegenwart besser lösen.

 


Eine Meeresschnecke, die rote Tinte absondert
Nicht die Allerhellste: die Meereschnecke Aplysia auch als Seehase bezeichnet


„Use it or loose it”

Nicht alles ist gleichermaßen erinnernswert. Die Merkfähigkeit unseres Kurzzeitgedächtnisses beruht auf einer vorübergehend erhöhten Aktivität von Neurotransmittern. Wird der anfänglich geknüpfte Kontakt nicht weiter gepflegt, baut sich die Verbindung ab, die gespeicherte Information geht wieder verloren („use it or lose it“). Laufen aber immer neue Aktionspotentiale über die Synapsen, verändert sich beim empfangenden Neuron die Genexpression. Neue Rezeptorproteine werden gebildet, die eine zuverlässigere Signalübertragung gewährleisten. Diese Potenzierung ist die Grundlage des Langzeitgedächtnisses: Wir erwerben Wissen nur dann dauerhaft, wenn der Lernreiz über einen längeren Zeitraum wiederholt wird. Übung macht den Meister! Daher können wir uns an unsere Telefonnummer aber nicht mehr an unsere letzte Hotelzimmernummer erinnern.


Das Gehirn ist ein Apparat, der mit zunehmenden Gebrauch nicht verschleißt, sondern im Gegenteil, besser funktioniert. Jede neue Verschaltung ist gleichbedeutend mit Wissenserwerb. Dies lässt die Welt im Kopf entstehen. Wer etwas gelernt hat, hat sein Gehirn physisch tatsächlich verändert, es sieht nach dem Lernprozess, etwa dem Lesen dieses Buches, anders aus, als zuvor. Ist Langzeitwissen erst einmal fest in neuronalen Bahnen verankert, kann es nur mit sehr viel Aufwand wieder umprogrammiert oder überschrieben werden. (Diese Erfahrung hat jeder schon einmal gemacht, der ein Musikinstrument spielt und ein Stück oder eine Technik falsch eingeübt hat.) Eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung des erworbenen Wissens spielt der Hippocampus, ein paarig angelegter Gehirnbereich, der insbesondere während bestimmter Schlafphasen aktiv ist. Er ist unser Tor zum Gedächtnis. Menschen ohne funktionierende Hippocampi können ihrem Gedächtnis keine neuen Erinnerungen mehr hinzufügen.


Aufmerksamkeit

Unser Nervensystem befindet sich in einem latenten Überwachungsmodus, in dem es weitaus mehr sieht, hört und spürt, als wir wahrnehmen. Der Gehirnteil, der wie ein Filter aus dem Rauschen der Reize jene Informationen heraussucht, auf die es letztlich ankommt, ist der Thalamus. Nur was er an die Großhirnrinde weiterleitet, hat unsere Aufmerksamkeit und kann damit auch in unser Bewusstsein dringen. Der Suchscheinwerfer Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass wir aus einem Stimmengewirr unseren eigenen Namen heraushören oder in einer belebten Fußgängerzone sofort einen Elefanten entdecken würden. Ihre Auswahl muss die Aufmerksamkeit sehr sorgfältig treffen, denn die Verarbeitungskapazität für bewusstes Erleben ist ausgesprochen gering: Von den 400.000 Sinnesreizen, die pro Sekunde auf das Gehirn einprasseln, können nur rund 120 bewusst erfasst werden. Was gerade wichtig ist, hängt vor allem von der jeweiligen Situation ab: Die Aufmerksamkeit der Mutter eines Kleinkinds ist eine andere als die einer Studentin während der Vorlesung oder der eines Autofahrers im Großstadtverkehr. Der jüngst verstorbene israelisch-amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman erinnert uns daran, dass im Englischen „to pay attention“ zum Ausdruck bringt, dass wir gleichsam einen Preis dafür bezahlen müssen, damit wir unsere Aufmerksamkeit etwas Bestimmtem widmen können.

 

 

Wer mehr wissen will:

Kandel, Eric (2006): „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, Pantheon.

Kahneman, Daniel (2011): „Schnelles Denken, langsames Denken“, Siedler.

Roth, Gerhard, Strüber, Nicole (2018) „Wie das Gehirn die Seele macht“, Klett-Cotta.

 

Bildnachweis:

 



[i] Da die Evolution kein Ziel hat, hat sie auch nicht das Bestreben, immer leistungsfähigere Gehirne hervorzubringen. Wie anderen Organe wird auch das Gehirn durch den Grad seiner Beanspruchung geformt. Da die Nachfahren der Wölfe, die sich vor etwa 20.000 Jahren in die Obhut des Menschen begaben, seitdem in einer weniger komplexen Umwelt leben, ist das Gehirn eines wolfsgroßen Hundes heute um ein Drittel kleiner als das seines wilden Artgenossen. 


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