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Wie entsteht die Welt im Kopf (Teil 2):

 

Neuronale Netze

Das, was den Aufmerksamkeitsfilter, den wir im letzten Blog beschrieben haben, passiert und dauerhaft im Gedächtnis verankert wird, wird Teil unseres Wissens, das heißt unseres abrufbaren Inventars an Fakten, Annahmen und Regeln über die Welt. Repräsentiert wird dieses Wissen durch ein neuronales Netz aus Abermilliarden von Nervenzellen. Diese Netze sind es, die die Welt in unserem Kopf entstehen lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine feuernde Nervenzelle ihren Impuls erfolgreich auf eine andere überträgt und damit dauerhafte Verbindungen anregt, ist umso grösser, je näher sich die beiden Zellen sind. Auf diese Art entstehen lokale Verbindungen aus einigen Tausend bis zu einigen Millionen Nervenzellen, die jeweils etwas Bestimmtes repräsentieren: einen Baum, eine Wolke, eine Zahl, ein Gesicht oder den Duft einer Rose. Wir dürfen uns diese lokalen Netze, nicht als „Bilder“ der erfahrbaren Welt im Gehirn vorstellen, sondern lediglich als deren symbolische Repräsentation.


Farbige Darstellung von Gehirn-Aktivitäten durch eine PET-Aufnahme
Moderne bildgebende Verfahren erlauben es, die Aktivitäten des Gehirns zu beobachten

Wenn wir einen Computer oder Fernseher öffnen, finden wir dort ebenfalls keines der Bilder, die uns diese Maschinen zeigen, sondern lediglich Schaltkreise und Datenspeicher.

 








Gemälde eines blassroten Rosenstrausses in einer Vase
Woher wissen wir, das dies Rosen sind?

Wir können uns beim Denken zuschauen

Jedes Themengebiet hat seine eigene Geographie. Die Aktivitäten, die bestimmte Reizmuster an bestimmten Orten auslösen, lassen sich heute mit Hilfe bildgebender Verfahren sichtbar machen – sie ermöglichen es gewissermaßen dem Gehirn beim Denken zuzusehen. Das Broca-Zentrum im vorderen Teil der Großhirnrinde bildet beispielsweise die für das Sprechen notwendigen grammatikalischen Strukturen ab; das Wernicke-Areal im hinteren Bereich ist für das rationale Sprachverstehen zuständig. (Benannt sind diese Areale nach dem französischen Arzt Paul Broca und seinem deutschen Kollegen Carl Wernicke.) Analog dazu gibt es Zentren jeweils für die mengen- und zahlenmäßige Repräsentation von Mathematik oder das Erkennen von Gesichtern. Ein lange vermuteter gemeinsamer evolutionärer Zusammenhang von Sprache und Mathematik im menschlichen Gehirn hat sich übrigens bislang nicht bestätigt. Nach allem was wir wissen können sind für die Repräsentationen von Mengen und höherer Mathematik jeweils zwei weitere Gehirnbereiche zuständig.


Querschnittzeichnung eines menschlichen Gehirns mit markiertem Broca-Zentrum und Wernicke-Areal
Hier entsteht Sprachverständnis

Wie entsteht Weltwissen?

Werden unterschiedliche Areale gleichzeitig durch Umweltreize aktiviert, können auch sie sich untereinander verbinden. Das Gehirn interpretiert dann das gemeinsame Auftreten dieser Stimuli als kausal verknüpft. Die daraus entstehenden Assoziationen sind unser Weltwissen. Objekte und Ereignisse empfinden wir dann als zusammengehörig – unabhängig davon, ob die vom Gehirn unterstellte Kausalität tatsächlich besteht. Wir assoziieren dann einen Ort mit einem angenehmen Erlebnis, das wir dort hatten, eine Rose mit ihrem Duft, eine Menge mit einer Zahl, eine dunkle Wolke mit Regen und Blitz mit Donner. Assoziationen dienen dabei nicht immer einem erkennbaren evolutionären Zweck. Ein Beispiel hierfür ist Synästhesie. Synästheten sind Menschen, die bestimmte abstrakte Objekte, wie Monate, Buchstaben oder Zahlen mit bestimmten Farben oder auch Positionen im Raum assoziieren: Der Januar ist schwarz, das «A» ist grün und die «fünf» ist rechts oben.


Buchstaben und Zahlen, jede in einer anderen Farbe
So können Synästhetinnen und Synästheten Buchstaben und Zahlen erscheinen

Der Bildung von Assoziationen liegt das behavioristische Lernschema der Konditionierung zugrunde, wie es erstmals für die pawlowschen Hunde beschrieben wurde. Einige sehr grundlegende Assoziationen – wie der Speichelfluss vor dem Essen – haben sich im Laufe der Evolution in unseren genetischen Programmen verankert, so dass sie nach der Geburt nicht mehr durch Lernen erworben werden müssen.

 

Warum wir uns auf Wanderschaft begeben sollten

Auch Assoziationen dienen letztlich dem Zweck, die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Das Gehirn ist ein Regelgenerator, der Regeln aufgrund gemachter Erfahrungen eigenständig konstruiert und uns dadurch hilft, in der Welt zurechtzukommen. Wir erlernen nicht Details, sondern allgemeine Prinzipien. Deshalb erkennen wir eine Rose als Rose und eine Wolke als Wolke, auch wenn jedes einzelne Exemplar anders aussieht.

Manche Lernprozesse, etwa das Laufenlernen oder die Beherrschung eines Musikinstruments, sind ausgesprochen anspruchsvoll und beschäftigen uns über Monate und Jahre. Grundsätzlich gilt: Je mehr Reizen wir uns aussetzen, umso mehr Synapsen können sich bilden und das Wissen über die Welt in unserem Kopf mehren. Wir müssen Rosen und Wolken gesehen haben, um zu wissen, was Rosen und Wolken sind und wenn uns eine dunkle Wolke noch nie nass gemacht hat, können wir sie auch nicht als Regenwolke erkennen. Die deutsche Sprache kennt hierfür das schöne Wort „Erfahrung“. Ein „erfahrenes“ Gehirn ist viel gefahren, das heißt in der Welt herumgekommen; es hat sich dadurch verschiedensten Reizen ausgesetzt, sie dem neuronalen Inventar hinzugefügt und mit anderen Objekten in der Datenbank verknüpft. Ähnlich auch in anderen Sprachen: Das englische experience und das französische expérience haben ihre Wurzel im lateinischen Wort experiri „ausprobieren“.


Farbige Zeichnung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines Mannes auf Wanderschaft. Im Hintergrund eine Burgrunie
Nach der Wanderschaft ist man "bewandert"

Aus diesem Grund werden seit Jahrhunderten Handwerksgesellen (und mitterweile auch Gesellinnen) auf Wanderschaft geschickt. Sie sollen bei fremden Meistern lernen und dürfen sich während dieser Zeit ihrer Heimat nicht nähern – im Bannkreis gibt es schon zu viel Bekanntes. Nach dieser Zeit sind die Gesellen „erfahren“ und „bewandert“. Auch das Wort „Bildung“ beschreibt erstaunlich genau die Erkenntnisse der Neurowissenschaften: Die neuronale Plastizität hat tatsächlich etwas Neues gebildet. Wir alle haben solche Wanderungen unternommen, haben dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, und daher auch alle verschiedene Bilder von der Welt in unseren Köpfen.




 

Das Gehirn wurde nicht gebaut, um die Welt zu verstehen

In welchem Verhältnis aber stehen diese Bilder zu der realen Welt? Die Physik unterstellt, dass jenseits unseres Geistes eine objektive materielle Realität existiert. Doch aus den gewaltigen Spektren mechanischer und elektromagnetischer Wellen etwa können wir nur winzige Ausschnitte wahrnehmen. Lange mechanische Wellen empfinden wir über die Haut als Vibrationen, kurze Wellen über das Gehör als Töne. Elektromagnetische Wellen, die länger als 740 Nanometer sind, nimmt die Haut als Wärme wahr; die gleichen Wellen, etwas kürzer, empfangen wir über das Auge als Licht. Das Gehirn zaubert aus den Lichtimpulsen unterschiedliche Farbempfindungen, obwohl die Natur selbst keine Farben kennt. Und auch die so erzeugten Farben nehmen wir nicht wir objektiv wahr: Unser Gehirn gaukelt uns eine Konstanz vor, die es nicht gibt: Wir sehen Bananen oder Briefkästen stets als gelb, obwohl sich ihre Farbe tatsächlich in Abhängigkeit von den Lichtverhältnissen laufend verändert.


Ein altmodisch verzierter gelber Briefkasten
Es ist tatsächlich nicht immer dasselbe Gelb

Die Erfahrbarkeit der Welt ist durch unsere Sinnesorgane begrenzt, eine möglicherweise existierende physikalische Realität können wir also in weiten Teilen gar nicht kennen. Unser Wahrnehmungsapparat wurde auch nicht mit dem Ziel konstruiert, die reale Welt zu verstehen, sondern allein, um in dieser Welt zu überleben. Die Welt so zu zeigen, wie sie tatsächlich ist – uns etwa den vierdimensionalen Raum wahrnehmen zu lassen – wäre aus evolutionärer Sicht eine Verschwendung der begrenzten Rechenleistung unseres Gehirns für Informationen, die keinerlei Überlebensboni ausschütten. Das Gehirn ist hemdsärmelig und pragmatisch. Es ist nicht an der Realität interessiert, sondern an der Wirklichkeit – an dem, was auf uns wirkt.

 

 

 

Wer mehr wissen will:

Kandel, Eric (2006): „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, Pantheon.

Kahneman, Daniel (2011): „Schnelles Denken, langsames Denken“, Siedler.

Roth, Gerhard, Strüber, Nicole (2018) „Wie das Gehirn die Seele macht“, Klett-Cotta.

Amalric, Marie / Dehaene, Stanislas (2016): „Origins of the brain networks for advanced mathematics in expert mathematicians“, PNAS.

 

 


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