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Geschichte der Mathematik: Wie man das Gewicht der Erde berechnet

Autorenbild: Jens BottJens Bott

Jagd auf das Unbekannte: Die Entstehung der Algebra

Entgegen einem verbreiteten Vorurteil war das Mittelalter eine Epoche wichtiger Fortschritte. Das gilt auch für die Mathematik. Indische Gelehrte wie Brahmagupta entwickelten das Dezimalsystem und erfanden die Null; der Italiener Fibonacci verband als einer der Ersten Mathematik und Naturbeobachtung. Eine ganz besondere Rolle kommt dem Perser Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi zu. Um das Jahr 830 verfasste er ein Buch mit dem Titel „Rechnen mithilfe der Ergänzung und des Ausgleichs“, in der er das Wissen des Griechen Diophantos von Alexandria mit dem Brahmaguptas verband. Diese neue Synthese aus Ost und West bezeichnete Al-Chwarizmi als al-gabr“. 


Statue des Mathematikers mit Turban
 Statue des Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi: Von seinem Namen leitet sich der Begriff "Algorithmus" ab.

Was man alles auf eine Waage legen kann…

Al-Chwarizmis einfache Darstellungen wurden mehrfach ins Lateinische übertragen. Der Gelehrte aus dem Orient begegnet uns daher auch heute noch auf Schritt und Tritt: Aus seiner Methode al-gabr wurde Algebra, aus dem arabischen Wort „Sifr“ für „Null“ entstand das Wort „Ziffer“ und der Name des Autors wurde in dem Wort „Algorithmus“ verewigt. Algebra erlaubt es uns, zahllose Zusammenhänge in allgemeiner Form darzustellen. Allgemein, weil wir zum Beispiel Buchstaben als Platzhalter verwenden können: a´`2 + b´`2 = c´`2. Die vielleicht bekannteste Gleichung der Welt beschreibt die Beziehung zwischen den Quadraten, die sich aus den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks konstruieren lassen. Diese Beziehung gilt immer, ganz gleich welche reelle Zahlen wir als Variablen für die Buchstaben einsetzen. Die beiden Aussagen links und rechts des Gleichheitszeichens wiegen gewissermaßen gleich schwer; wir können sie uns wie die Schalen einer Waage im Gleichgewicht vorstellen. Auf der linken Schale lasten a´`2 + b´`2, auf der rechten c´`2.


Eine Seite aus al-Chwarizmis Buch
Eine Seite aus al-Chwarizmis Buch

Sind zwei „Gewichte“ bekannt, beispielsweise 3 für b und 5 für c, können wir das dritte „Gewicht“ ausrechnen. Al-Chwarizmis Methode des systematischen Ausgleichens beschreibt, wie sich der fehlende Wert „a“ bestimmen lässt. Bei der Betrachtung von a´`2 + 9 = 25 stört, dass sich in der Waagschale für a auch noch die 9 befindet, wir müssen sie daher entfernen. Damit gerät die Waage allerdings aus dem Gleichgewicht, denn die rechte Waagschale wiegt nun 9 schwerer als die linke. Nehmen wir nun auch auf der rechten Seite 9 weg, kommt das Ganze wieder ins Lot. Mathematisch ausgedrückt: a´`2 + 9 - 9 = 25 - 9. Diese Beziehung können wir arithmetisch vereinfacht als a´`2 = 16 darstellen. Nach derselben Logik lassen sich nun beide Seiten der Gleichung einer Wurzelbehandlung unterziehen:  

wurzel a quadrat = wurzel 16

Somit erhalten wir a = 4 (beziehungsweise - 4). Die konkrete Ausprägung des Satz des Pythagoras lautet in diesem Fall also: 16 + 9 = 25.

 

Altägyptischer Papyrus, der Götter mit einer Waage darstellt
Man kann so ziemlich alles auf die algebraische Waage legen, zur Not auch den Planeten Erde

Ausgerechnet!

Algebra erlaubt uns also, das Unbekannte zu finden. Damit lässt sich Wissenschaft betreiben. Über die Kenntnis abstrakter Zusammenhänge bringen wir Neues in Erfahrung. Wir müssen nicht losziehen und die Seite „a“ des Weizenfeldes abschreiten oder eine Bildschirmdiagonale mit dem Zollstock ausmessen. Algebraisches Wissen hat der Menschheit bereits unzählige Tonnen Schweiß und unzählige Jahre Arbeit erspart: Bereits die babylonischen Landvermesser konnten sich in der Mittagshitze einfach unter einen Baum setzten und die fehlende Information ausrechnen. Mathematik lehrt uns eindrücklich, dass Studieren über Probieren geht. 


graphische Darstellung des Satz des Pythagoras
a´`2 + b´`2 = c´`2 als algebraische Darstellung einer geometrischen Beziehung.3,4 und 5 ist dabei nur eines unter unendlich vielen pythagoreischen Zahlentripeln

Die Ausgleichstechnik erlaubt es uns, selbst Dinge auf die virtuelle Waagschale zu legen, die wir in der Realität niemals wiegen könnten. Newtons Gravitationsformel – beschreibt etwa die Kraft, mit der sich zwei Massen gegenseitig anziehen. Diese Massen können beispielsweise ein Apfel und die Erdkugel sein. Durch algebraische Umformungen lässt sich die Formel einfach nach der Erdmasse auflösen und der Apfel verrät uns, dass das Gewicht der Erde rund 5.973 Milliarden Billionen Tonnen beträgt. Experimentell ließe sich diese Zahl unmöglich bestimmen, doch Algebra löst das Problem auf eine verblüffend einfache Art und Weise.


Gemälde aus dem Jahr 1905: Newton betrachtet im Garten einen gefallenen Apfel
Newton erkannte, dass nicht nur die Erde den Apfel anzieht, sondern auch der Apfel die Erde

Alles, was sonst noch unter Algebra behandelt wird, sind Variationen dieses Themas. Stets geht es um einen Ausgleich, wobei die technische Durchführung in einigen Fällen recht anspruchsvoll sein kann. Dazu gehören Gleichungen höherer Ordnung, bei denen die Unbekannte in der zweiten, dritten oder einer noch höheren Potenz steht (x´`2, x´`3 … x´`n) oder lineare Gleichungssysteme, bei denen viele verschiedene Gleichungen und Unbekannte (x1, x2, … xn) zueinander in Beziehung gesetzt werden. Solchen Schwierigkeiten rückt man mit Polynomdivision, Eliminationsverfahren (ein einfaches Verfahren für lineare Gleichungen stammt übrigens von Gauß) Linearer Optimierung, Matrizen- oder Vektorrechnung zu Leibe. Doch letztlich stecken dahinter stets al-Chwarizmis algebraische Ausgleichs- und Umformungsregeln.[i]

 

Der kurze Weg von „einfach“ nach „unmöglich“

Bereits in der Antike war bekannt, dass es für den Satz des Pythagoras unendlich viele so genannte pythagoreische Tripel gibt, also drei natürliche Zahlen, die die Gleichung a´`2 + b´`2 = c´`2 erfüllen, wie etwa 3, 4 und 5 oder 119, 120 und 169. Intuitiv würden wir daher für a´`3 + b´`3 = c´`3 und höhere Potenzen dasselbe erwarten. Doch Intuition ist in der Mathematik kein guter Ratgeber. Denn wie der Franzose Pierre de Fermat bereits im 17. Jahrhundert vermutete, gibt es für diese höheren Potenzen überhaupt keine Lösung.


Zeitgenössisches Portrait: Fermat ist wohlgenährt, trägt lange weiße Haare und hat eine Knollennase
Vermutete richtig: der Rechtsanwalt und Zahlenjongleur Pierre de Fermat

Fermat musste damals den Beweis für seine Vermutung schuldig bleiben. Allerdings ist dieser Nachweis auch alles andere als trivial. Nachdem sich 350 Jahre lang zahllose Mathematiker an ihm versucht haben, gelang dem Briten Andrew Wiles 1994 schließlich, nach vieljähriger Arbeit, das Kunststück den Beweis der Unmöglichkeit zu erbringen. Für die Darstellung seines Gedankengangs brauchte er über 100 Seiten. Die vermeintlich einfache Erhöhung eines Exponenten von 2 nach 3 führt hier von simpler Schulmathematik zu einer selbst für die versiertesten Mathematiker kaum nachzuweisenden Unmöglichkeit…

 





 

Wer mehr wissen will:

Beutelspacher, Albrecht (2010): „Kleines Mathematikum“, C.H. Beck.

Pickover, Clifford A (2014): „Das Mathebuch“, Librero.

Bryson, Bill (2024): “Eine kurze Geschichte von fast allem“, Goldmann

 

 

Bildnachweise:

 

Anmerkungen:

[i] Matrizenbasierte Gleichungssysteme führte zur Entwicklung des Operations Research, das heute vor allem in den Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften eingesetzt wird, dessen Ursprünge aber im Zweiten Weltkrieg liegen. Alliierte Wissenschaftler suchten damals nach mathematischen Modellen zur Unterstützung militärökonomischer Fragestellungen: Wie lässt sich die Wirkung von Bombenteppichen maximieren? Welches Kosten-Nutzen-Verhältnis von Transport- zu bewaffneten Begleitschiffen minimiert die Verluste eines Geleitzugs?

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