Sabotage!
Eine – wenn auch unbelegte – Anekdote bringt den Begriff „Sabotage“ mit den Holzschuhen französischer Tagelöhner in Verbindung. Die verzweifelten Menschen sollen ihre als „sabots“ bezeichneten Pantinen im 19. Jahrhundert in den empfindlichen Mechanismus der neuen Landwirtschaftsmaschinen geschleudert haben, die sie ihrer Arbeit beraubt hatten.

Die Verzweiflung war nur verständlich. Während um 1800 in Deutschland noch fast 80% aller Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt waren, waren es hundert Jahre später nur noch die Hälfte. Noch einmal hundertzwanzig Jahre danach ist dieser Wert auf 1,4% gefallen. Heute ernährt ein Bauer einer westlichen Industrienation 35-mal so viele Menschen wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

Die rasante Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft hatte Thomas Malthus Lügen gestraft. Ganz im Gegensatz zu dessen Befürchtung war die Agrarproduktion sogar wesentlich rascher gewachsen als die Bevölkerung. Möglich wurde diese bemerkenswerte Entwicklung durch den Einsatz von Wissen um optimierte Bewässerung, Düngung und Zuchtwahl sowie den Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen. Die Folge waren Abermillionen arbeitsloser Landarbeiter, die auf der Suche nach Arbeit in die neu entstandenen industriellen Ballungsräume strömten.
Dort setzte sich fort, was in der Landwirtschaft seinen Anfang genommen hatte. So stieg während des gesamten 20. Jahrhundert die Arbeitsproduktivität in den USA im Durchschnitt jedes Jahr um über 2%; ein Zuwachs, der sich seit Mitte der 1990er Jahre durch die fortschreitende Informationstechnologie und aktuell durch die Künstliche Intelligenz noch einmal deutlich beschleunigt hat.[i] Während die größten Frachtschiffe der Welt um 1850 höchstens 650 Tonnen Güter transportieren konnten, bewegen ihre Nachfolger heute bis zu 600.000 Tonnen. Die unzähligen Schauerleute und Dockarbeiter, die noch vor 100 Jahren manchmal wochenlang damit beschäftigt waren, die Ladung eines Schiffes zu löschen, sind verschwunden. Containerbrücken bewegen heute vielhundertfache Massen in weniger als einem Tag.

Radikale Veränderungen
Was bedeuten solch radikale Umwälzungen für die Entwicklung einer Volkswirtschaft? Das war die Frage, die den Österreicher Joseph Schumpeter umtrieb. Der 1883 in Mähren geborene und 1950 in den USA gestorbene Ökonom, Politologe und Soziologe erkannte, dass moderne Wirtschaftssysteme einem permanenten Wandel unterliegen. Der Wohlstand einer Nation hängt weniger vom Fleiß ihrer Bevölkerung ab, sondern vielmehr von deren Fähigkeit, Waren und Dienstleistungen effizient herzustellen. Um diese Produktivität zu entfalten, bedarf es, ganz im Sinne Nietzsches, einer destruktiven Kraft, die in der Lage ist, Altes aus dem Weg zu räumen.

Ein instabiles System
Diesen Gedanken einer „schöpferischen Zerstörung“ legte der erst 28-jährige Wissenschaftler 1911 in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ dar. Als einer der Ersten nach Marx‘ Tod nimmt Schumpeter nicht Individuen, sondern wieder die gesamte Wirtschaft in den Blick. Wie Marx hält auch Schumpeter das kapitalistische System für grundsätzlich instabil. Die Ursache ist allerdings keine historische Zwangsläufigkeit, sondern vielmehr ein bestimmter Typus von Unternehmer. Oft sind es junge Pioniere, ohne Geld aber mit Ideen, und bereit, Risiken einzugehen. In vielen Fällen sind sie nicht selbst die Urheber der Innovation, aber sie sind die Ersten, die deren Möglichkeiten erkennen. Indem sie die Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital nach völlig neuen Prinzipien kombinieren, entstehen billigere, bessere oder völlig neue Produkte. Dabei geht es nicht um kleine Fortschritte, sondern um disruptive Ideen, die das Potential haben, die Welt zu verändern. Glühbirnen, Verbrennungsmotoren, Halbleitertechnik oder das Internet haben in wenigen Jahren Kerzen, Pferde, Abakusse, und Printmedien aus unserer Welt verdrängt. Das Neue setzt sich durch, weil es die Bedürfnisse der Menschen auf eine bessere Art und Weise befriedigt.

Der unablässige technologische Wandel bringt Gewinner und Verlierer hervor. Über Nacht verschwinden ganze Branchen. Die Welt braucht heute keine Kutscher, Kerzenzieher, Heizer, Laternenanzünder, Schreibmaschinenmechaniker oder Schriftsetzer mehr. Berufe, die vor zweihundert Jahren noch Millionen Menschen Lohn und Brot gaben, wie Köhler, Böttcher, Wagner, Weber, Bäcker, Metzger, Schmied, Sattler oder Gerber existieren heute fast nur noch als Familiennamen.
Destruktiv-kreativer Kapitalismus
Zerstörerische Kreativität ist nach Schumpeters Überzeugung das eigentliche Wesen des Kapitalismus. Die alten Strukturen müssen verschwinden, um Neuem Platz zu machen. Das macht die dynamischen Unternehmer zu Maschinenstürmern. Wer sich nicht anpassen kann geht unter, gleich den zahllosen Arten, die die Auslesekriterien der Evolution nicht zu erfüllen vermochten. Schumpeters Unternehmer ist ein Getriebener, der sich nie lange auf seinen Lorbeeren ausruhen kann. Doch in dem Maße, indem Altes vergeht, entsteht auch laufend Neues. Kurzfristig mögen einzelne Menschen durch den strukturellen Wandel hart getroffen werden, doch langfristig profitieren alle von billigeren oder innovativen Produkten.[ii]
„Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, 1942 veröffentlicht, ist das zweite bedeutsame Werk Schumpeters. In ihm untersucht er die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen und politischen Prozessen. Schumpeter zeigt Respekt für Marx‘ Analyse des kapitalistischen Systems, insbesondere seine Vorhersage fallender Profitraten und monopolistischer Tendenzen. Dennoch kommen dem unsteten Kapitalismus große Verdienste zu: Nur seine Innovationskraft ermöglicht Massenwohlstand und finanzierbare Sozialsysteme. Monopole spielen für Schumpeter in diesem Zusammenhang sogar eine nützliche Rolle; aus einer Position der Stärke heraus können sie wichtige Innovationen aus eigener Kraft finanzieren. Das Risiko, dass sie ihre Position missbrauchen, ist gering; täten sie es, würden sich die Verbraucher von ihnen abwenden und nach Alternativen suchen.
Am Ende regieren Technokraten
Dennoch wird der Kapitalismus nach Schumpeters Überzeugung allen historischen Verdiensten zum Trotz am Ende dem Sozialismus weichen. Nicht, wie von Marx vorhergesagt, durch eine Weltrevolution verelendeter Massen, sondern aufgrund eines inneren Verfalls, der früher oder später die Vorteile einer sozialistischen Gesellschaftsordnung überwiegen lässt. Die durch den Kapitalismus initiierten Innovationsschübe werden mit der Zeit erlahmen, die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft wird zunehmend statisch. Die Unternehmerpersönlichkeiten, die Neuerungen gegen Widerstände durchzusetzen vermögen, werden nach und nach durch angestellte Technokraten ersetzt, die mehr auf ihr Eigeninteresse bedacht sind, als auf das Wohl des Unternehmens. Ein weiterer Grund für den Niedergang des Kapitalismus ist der Aufstieg der Intellektuellen.

Das kapitalistische System hat ihnen zwar Zugang zu Bildung verschafft, doch infolgedessen gibt es nun mehr Gebildete, als das System für Führungsaufgaben benötigt. Die frustrierte Intelligenzija wird zu Wortführern der Arbeiterklasse und entfacht so eine kritische Haltung großer Teile der Gesellschaft gegenüber dem herrschenden System. Am Ende wird ein – allerdings demokratisch legitimiertes – sozialistisches System den Kapitalismus verdrängen, letztlich, weil es den Menschen größere Sicherheit verheißt.
Schumpeters angreifbare Krisentheorie
In der destruktiven Kraft des Kapitalismus sieht Schumpeter auch die Ursache für die konjunkturellen Schwankungen, die die Volkswirtschaften immer wieder heimsuchen. Kommt es zu einer technischen Revolution, sind die Unternehmen der betroffenen Branchen gezwungen, alle gleichzeitig zu investieren, um die neue Technologie zu adaptieren. Die so entstandene Nachfrage nach Investitionsgütern führt zu einer Hochkonjunktur. Wer es nicht schafft, rasch genug auf die neue Technologie umzurüsten, geht bankrott. Unter den Überlebenden setzt ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb ein. Zwar können sie nun mehr und billiger produzieren, doch infolge der allgemeinen Überproduktion kommt es zu einem Preiskampf, dem viele Anbieter zum Opfer fallen, so dass die Wirtschaft dadurch in eine Rezession rutscht.
In der Tat lässt sich häufig beobachten, dass einem massiven Abschwung eine boomende Konjunktur vorausgeht – etwa bei der durch die neuen Informationstechnologien befeuerten Dotcom-Blase der Jahrtausendwende oder der Hausse am amerikanischen Immobilienmarkt unmittelbar vor der Finanzkrise von 2007. Schumpeters Konjunkturtheorie konnte sich allerdings nicht als Krisentheorie etablieren. Die Verwerfungen, die durch Höhen und Tiefen wirtschaftlicher Zyklen entstehen, ihre Ursachen und die Frage, wie sie sich überwinden lassen, sollten das bestimmende ökonomische Thema des 20. Jahrhunderts werden. (Mehr dazu im nächsten Ökonomie-Blog.)
Wer mehr wissen will:
Schumpeter, Joseph (1987): „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“, Duncker & Humblot.
Schumpeter, Joseph (2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, UTB.
Samuelson, Paul A.; Nordhaus William D. (2010): „Volkswirtschaftslehre“, Mi-Wirtschaftsbuch.
Bildnachweise:
Anmerkungen:
[i] Vgl. Samuelson / Nordhaus S. 185-186.
[ii] Der Nobelpreisträger Robert Solow konnte in einer 1956 veröffentlichten Studie zeigen, dass die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzielten Produktivitätsfortschritte fast ausschließlich auf neue Technologien zurückgeführt werden können. Heute befeuert vor allem der neue Produktionsfaktor „Information“ die Digitale Revolution. Unternehmen, die den neuen Rohstoff handeln, haben in den letzten Jahren an den Börsen astronomische Wertsteigerungen erfahren und übertreffen die Bewertungen der größten Industriekonzerne mittlerweile um ein Vielfaches.
Die nicht mehr vorhandenen Berufe sind "Opfer" des technischen Fortschritts. Der technische Fortschritt ist andererseits Produkt geistiger Ideen und ihrer praktischen Realisierung "in der Zeit". Völlig unvorhersehbar ist, was wohl passiert, wenn die geistige Idee um sich greift, dass lebendiges Leben nicht in der Zeit stattfindet, sondern in der Zwischenzeit von Zukunft und Vergangenheit.